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Dieses Buch gehört meiner Mutter

Dieses Buch gehört meiner Mutter

Titel: Dieses Buch gehört meiner Mutter
Autoren: Erich Hackl
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Ich ging geradeaus weiter. Bevor sich unsere Wege kreuzten, grüßte ich. Sie grüßten nicht zurück, aber sie taten mir nichts.
    Einmal fanden sie am Dachboden, in der Staublade ganz hinten, vom Hansl das Eiserne Kreuz und die Brieftasche mit russischem Geld. Sie setzten meiner Mutter eine Pistole an, so fest, daß sich der Lauf ins Fleisch bohrte. Am nächsten Tag begann die Wunde zu schwären. Sie wäre daran gestorben, hätte sich unter den Flüchtlingen, die eine Woche später bei uns Rast machten, nicht ein Arzt befunden. Er schnitt ihr mit einem kleinen Messer das Geschwür auf, ohne Betäubung, ich mußte sie halten, und der Vater lief um Schnaps, als sie das Bewußtsein verlor.
    Einmal kam einer allein, setzte sich auf die Hausbank, nahm die Kappe ab, streckte die Beine aus, blinzelte in die Sonne und sagte: »Ach, jetzt sind wir im schönen Österreich.«
    Einmal trieben sie uns um Mitternacht das Vieh aus dem Stall.
    Einmal tranken sie eine Kiste rohe Eier aus. Das Eiklar tropfte ihnen in langen Fäden vom Kinn.
    Einmal rissen sie alle Tuchenten auf, schüttelten die Federn heraus und nahmen das rote Inlett mit, zum Fahnenmachen.
    Einmal wurde ein ganzer Trupp bei uns einquartiert. Meine Mutter deutete mir, heimlich wegzurennen. »Warum willst du, daß sie geht«, sagte der Sergeant, der bald besser deutsch sprach als wir. »Wo ich bin, passiert nichts.« Es ist wirklich nichts passiert.
    [103]  Von drei Russen verprügelt,
    gebindert, wie wir sagten,
    als er auf sie zuging, freudig
    mit weit ausgestreckten Armen.
    »Hast vom Kommunismus genug«,
    fragte die junge Schallerin,
    während seine Frau, die Dietl,
    ihm den zerschundenen Schädel verband.
    »Dann hätt ich wohl vom Leben genug«,
    sagte der Wegmacher Siegl,
    der ein Häusl hatte und zwei Kühe,
    die seine Befreier wegtrieben.
    [104]  Das Jüngste Gericht stellte ich mir
    wie das große karierte Kassenbuch
    unter unserem Ladentisch vor.
    Die roten Zahlen in der rechten Spalte
    bedeuteten Verfehlung und Versäumnis.
    Der Einser stand für Starrsinn,
    der Zweier für Ungeduld,
    der Dreier für grobe Worte…
    Eine Menge läßliche Sünden,
    die sich im Lauf der Jahre
    zu schweren summierten.
    Mit einem Federstrich wurden sie getilgt,
    und obwohl er gleich wieder anfing,
    1, 2 und 3 anzuhäufen, schwante mir,
    mein Vater hat sich den Himmel verdient:
    als die junge Frau ihn anflehte,
    sie gegen den Strom der Flüchtlinge
    nach Liebenau zu fahren. Dort hatte sie
    tags zuvor ihr Kind zurücklassen müssen,
    hastig verscharrt unter Schotter und Erde.
    Sie wollte die Stelle einmal noch sehen.
    Als er ihr Flehen erhörte,
    das müde Roß einspannte
    und die Frau auf den Wagen hob,
    die sich an die Hinterlassenschaft klammerte:
    einen verwaschenen Strampelanzug
    und ein gelbes gesticktes Häubchen.
    [105]  Damit endet diese Welt,
    ende ich in ihr:
    mit einem jungen Mann, schmal und schlank
    und mit einem tiefen Grübchen am Kinn.
    Ich hielt ihn für den Bäckerbuben aus Weitersfelden,
    den, der plötzlich verschwand,
    als er hätte einrücken müssen.
    Er soll in die Schweiz geflüchtet sein.
    Man hat nie wieder was von ihm gehört.
    Aber der da war nicht der Bäckerbub,
    er war das ledige Kind der Wetti,
    der Frau, die den Buchmayr heiratete,
    nachdem die Buchmayrin gestorben war
    und der Witwer dastand mit sechs kleinen Kindern.
    Einmal nahm ihn sein Stiefvater mit zu uns ins Wirtshaus.
    »Ich will telefonieren.«
    Das war das erste, was ich von ihm hörte.
    Kein Grüßen, kein Bitten.
    Der ist aber frech, dachte ich. Gegen meinen Willen
    hat er mir imponiert.
    Ich weiß, was Liebe ist,
    aber ich konnte sie nie benennen,
    auch nicht für mich.
    Gernhaben und Mögen, andere Wörter hatten wir nicht.
    Ich habe mir nie große Gedanken gemacht.
    Es wird schon der Richtige kommen, dachte ich.
    Es gab etliche, denen ich recht gewesen wäre.
    Einen, der mir das Stenographieren beibrachte und noch etwas,
    das ich lieber für mich behalte.
    [106]  Einen andern, der mich im Vorbeigehen
    geschwind an den Zöpfen zupfte.
    Drei oder vier, die mir sehnsuchtsvolle Briefe schrieben,
    von der Front, aus dem Graben.
    Ich wollte nicht, aber mein Vater bestand darauf, allen zu antworten.
    »Du weißt nicht, was ein paar Zeilen von daheim für sie bedeuten,
    wenn überall nur Blut ist und Dreck.«
    Einer, den ich vielleicht auch gernhaben hätte können, fiel.
    Der von der Wetti war der Richtige. Aber es brauchte seine Zeit.
    Als es soweit war, fiel der Abschied nicht
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