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Dieses Buch gehört meiner Mutter

Dieses Buch gehört meiner Mutter

Titel: Dieses Buch gehört meiner Mutter
Autoren: Erich Hackl
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schwer:
    von dieser Welt, in der ich aufgehoben gewesen war
    die ersten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens,
    die einzigen, die mir gegenwärtig blieben bis zuletzt
    in Träumen
    auf Erden.
    [107]  Das war lange danach.
    Wie lange, ist mir entfallen.
    Er hatte den Vorderreifen geflickt,
    dann eine Halbe Most bestellt,
    der ihm zu sauer war.
    Am Revers seiner Jacke
    unter dem Gummimantel
    klebten Tabakkrümel.
    Er setzte sich zu den Bauern.
    Man merkte ihm an,
    daß er gewohnt war,
    vor Fremden zu reden.
    Hier war er nicht fremd.
    Statt zu erzählen, woher, wohin,
    fing er an, Fragen zu stellen:
    wieviel Joch Grund,
    wieviel Stück Vieh,
    wieviel Liter Milch,
    wieviel Klafter Holz.
    Als sie geantwortet hatten,
    nannte er eine Zahl.
    Ein paar lachten ihn aus,
    die andern machten grimmige Gesichter.
    Der Rest hörte nicht hin.
    »Drei«, sagte er noch einmal und spreizte,
    wie wenn sie taub oder blöd wären,
    Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger.
    »Mehr bleiben nicht über.«
    [108]  Als er aufbrach, erwiderten sie ungern seinen Gruß.
    Einige drehten die Köpfe zum Fenster.
    Sie beobachteten, wie er draußen
    das Motorrad aufrichtete
    und zwischen den Pfützen
    hinüber zur Straße schob.
    In der Stube war es so still,
    daß man die Steine knirschen hörte.
    Ich weiß nicht, ob ihnen
    die drei Finger in den Sinn kamen,
    als sie der Reihe nach aufhörten,
    Bauern zu sein. Der Werksbus,
    der sie sechzig Kilometer weit
    Kurve um Kurve zur Frühschicht brachte,
    hielt Punkt drei Uhr dreißig
    vor dem Feuerwehrhaus.
    Ihre Ställe wurden zu groß
    für zwei Säue und eine Geiß.
    Unser Wirtshaus sperrte zu.
    Das Anwesen verfiel.
    Von einem weiß ich,
    er hatte gelacht.
    Sein jüngster Sohn schrieb mir,
    alt geworden, einen langen Brief.
    Den letzten, der mich von dort erreichte,
    den allerletzten, den ich mit Interesse las.
    Er benannte mir die Firling
    Hof für Hof, Häusl für Häusl.
    Wer einmal und wer jetzt dort hauste.
    Wie viele noch Bauern waren:
    jeder achte, macht in Summe drei.
    [109]  Das war lange davor.
    Wie lange, hab ich vergessen.
    Der Mann war nicht allein weggefahren.
    Auf dem Sozius hatte er mich mitgenommen.
    Eingeklemmt zwischen Rücken und Schoß,
    im leinenen Rucksack aufrecht stehend,
    unser fröhliches kleines Kind.

[111]  NACHBEMERKUNG
    Soweit ich zurückdenken kann, hat meine Mutter von der Welt ihrer Kindheit und Jugend erzählt. Diese Welt lag im Unteren Mühlviertel, einem entlegenen Hügelland nördlich der Donau, nahe der tschechischen Grenze, und umfaßte nicht nur ihre eigene Lebenszeit, sondern auch Ereignisse aus den Jahren vor ihrer Geburt, die den Dorfbewohnern gegenwärtig geblieben waren. Aus eigener Anschauung kenne ich nur noch Reste dieser Welt – das zu einer Streusiedlung wuchtiger Kleinfamilienhäuser sich wandelnde Dorf und einige Nachkommen derer, die es vor einem Menschenalter bevölkert haben. Es ist nicht mehr abgeschieden, und seine jetzigen Bewohner verfügen über allerlei Annehmlichkeiten; auch über die Gewißheit oder Illusion, sich im Gleichschritt mit der zusammengestückelten großen Welt zu bewegen. Es wirkt öde und grau, verglichen mit den farbigen Bildern, die durch die Erzählungen meiner Mutter von den Menschen und ihren Verrichtungen in mir entstanden sind. Ich bin nun, nach ihrem Tod, darangegangen, mich der früheren Welt zu versichern, sie mit ihrem Blick und in ihren Worten wahrzunehmen, und deshalb gehört dieses Buch meiner Mutter.
    Tatsächlich gehört es aber auch meinem Vater, denn die längste Zeit hat er sie zum Erzählen gebracht und im Erzählen begleitet. In meiner Erinnerung, die nicht frei von Wehmut ist, verständigen sich die beiden oft, ständig eigentlich, über die Zeit und die Gegend, in denen sie geboren und aufgewachsen sind. Das Erzählen meines Vaters war vermittelnder als das ihre, es [112]  bezog uns Kinder mit ein, nahm Rücksicht auf unseren Wissensstand, sparte nicht an Pointen, kehrte die heiteren und die komischen Aspekte hervor. Es war ein erklärendes, auch aufklärendes Erzählen, während das meiner Mutter unmittelbar, deutungslos, offen, nicht auf ein Ende oder eine Lehre hin gerichtet war. Unlängst fand ich ein Blatt Papier, auf dem mein Vater – der zwanzig Jahre vor ihr gestorben ist – unter der Überschrift »Gedanken in der Intensivstation, 13.   3.   1982« (zwei Tage nach einer schweren Herzoperation) aufgezählt hatte, was er so gern noch erleben wollte. Tätigkeiten verrichten, Wege gehen,
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