Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dieses Buch gehört meiner Mutter

Dieses Buch gehört meiner Mutter

Titel: Dieses Buch gehört meiner Mutter
Autoren: Erich Hackl
Vom Netzwerk:
gescheit.
    Er hatte seine Frau getötet.
    Es war ein Unfall, beteuerte er.
    Er habe auf eine Katze geschossen.
    Das Gericht sprach ihn frei.
    Er hatte einem das Leben gerettet.
    Er hatte ihn aufs Pferd gehoben,
    er war mit ihm weit geritten,
    zum Verbandsplatz, im Krieg,
    sonst wäre der eine verblutet.
    Er war hinter den eigenen Töchtern her.
    Der Fanni, die bei uns Dirn war,
    schlich er bei jeder Gelegenheit
    nach in den Stall oder paßte sie
    auf dem Streuboden ab. Einmal
    ging mein Vater dazwischen.
    Er schlug ihn grün und blau.
    »Tu das nie wieder.« Aber er tat es.
    Viel später fand die Fanni eine Stelle
    als Serviererin in einem Hotel.
    Der Juniorchef machte ihr einen Antrag,
    dann jagte er sie aus dem Haus.
    Einer hatte ihm akkurat geschrieben:
    »Die hat es mit ihrem Vater getrieben!«
    [14]  Lebensmüde. Ein Zustand,
    an dem man sterben konnte.
    Selten genug, aber doch.
    Sich am hellichten Tag hinlegen,
    vorher nach dem Pfarrer schicken,
    die letzte Ölung empfangen,
    die Augen schließen für immer.
    Aber die meisten sind gestorben,
    als sie noch voll im Saft standen.
    Vom Heuboden gefallen,
    vom Baum erschlagen,
    vom Blitz getroffen.
    Oder einfach umgesunken,
    in der Hand den Krampenstiel,
    die Mistgabel oder den Eisstock.
    Gesund fortgegangen,
    tot heimgekommen.
    Zwei Tage lang aufgebahrt.
    Von den Männern und Frauen,
    alle in schwarzem Tuch,
    mit Weihwasser besprengt,
    beim Namen genannt,
    mit einem Abschiedswort bedacht.
    Dann rief der Vorbeter auf
    zum gemeinsamen Gebet:
    für den Verschiedenen,
    für die Freundschaft,
    für alle, die in dem Haus
    [15]  schon gestorben sind,
    und für den Nächsten,
    der heraussterben wird.
    Das Wimmern der Witwe,
    das Schluchzen der Waisen,
    das Räuspern der Nachbarn,
    während der Sarg zugenagelt,
    von vier Männern geschultert,
    auf ein Fuhrwerk gehoben wurde.
    Zuletzt der Trauermarsch,
    schleppend und trostlos.
    [16]  Trostloser noch war es,
    wenn ein Kind starb,
    und besonders trostlos,
    wenn es ungetauft starb.
    Nur die engsten Angehörigen
    gaben ihm das letzte Geleit.
    Für gewöhnlich trug der Vater
    den kleinen Sarg, wankend
    unter der federleichten Last.
    Als aber unser Nazl starb,
    vier Jahre vor meiner Geburt,
    war der Vater im Krieg.
    Man verschob das Begräbnis
    in der Hoffnung, der Kaiser
    werde ein Einsehen haben
    und Sterbeurlaub genehmigen.
    Schließlich führte ein Nachbar
    den Trauerzug an, unterm Arm
    den ungehobelten Kindersarg.
    Hinter ihm meine Mutter.
    Auf dem Rückweg, zwischen
    Friedhofsmauer und Schwagerhaus,
    kam ihr mein Vater entgegen,
    wankend wie sie unter der
    schwer beerdigten Last.
    [17]  Das ist meine erste Erinnerung:
    die an den Vater, als er sechs Jahre alt war
    und einer Verwandten geschenkt wurde.
    Ihr Mann war jung gestorben, kinderlos,
    sie wollte nie wieder heiraten.
    Aber da war der Hof, schuldenfrei
    mit fünfzig Joch Grund,
    der einen Erben suchte.
    Damit er sich nicht sträubte,
    kauften sie ihm einen Janker
    aus grober Wolle, die kratzte.
    Du kennst den Weg, sagten sie,
    zu Mariä Himmelfahrt längstens
    gehen wir dich besuchen.
    Daß du uns keine Schande machst.
    Während seine neue Mutter
    samt Gesinde beim Heuen war,
    mußte er neben der Muhm sitzen,
    der sie das Bett zum Sterben
    in die Stube gestellt hatten.
    Greif sie an. Ist sie kalt,
    zündest du die Totenkerze an.
    Vor ihm die Kerze, daneben die Zünder,
    dahinter die Muhm.
    Einmal war sie kalt,
    da zündete er die Kerze an.
    Er betete zehn Vaterunser,
    fünf Gegrüßet seist du Maria.
    Dann war sie nicht mehr kalt.
    Dann wieder.
    [18]  Dann zuckte die Flamme,
    sprang die Tür zur Kammer auf,
    jagten Schemen über Decke und Wand.
    Da floh er, Hals über Kopf
    und über die Felder.
    Er schaute sich nicht um.
    Zu Hause der Vater, die Mutter schämten sich.
    Fünfzig Joch Grund, viel Wald, schön eben.
    Bald wärst du Bauer geworden auf eigenem Hof.
    Jetzt haben wir dich wieder.
    Etliche Jahre später heiratete die Verwandte.
    Ihn nahm sie zum Beistand.
    [19]  Seine ältere Schwester,
    die ihm die liebste war,
    wurde ledig schwanger.
    So habe ich es gehört.
    Ein Gendarm sei ihr zugegangen
    und auch der Gemeindearzt von Weißenbach.
    In Leonhard gab es noch keinen.
    Blitzsauber war sie, habe ich gehört.
    Sie hätten sie festgehalten
    zu dritt, der Vater, die Mutter
    und der Gendarm,
    so habe ich es gehört,
    und der Arzt habe ihr beim Abtreiben
    die Blase zerrissen.
    Sie habe geschrien, daß es noch in Maasch
    zu hören gewesen sei.
    Das habe ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher