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Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition)
Autoren: Alex Reichenbach
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    1
    Als Erstes fielen Amelie die Möwen auf. Ein krakeelender Schwarm, der sich um etwas im Wasser balgte.
    Es war Ende Oktober um halb acht früh, regnerisch und stürmisch. Amelie ging wie jeden Morgen am Griesheimer Mainufer entlang; fünf Kilometer Strecke waren ihr tägliches Pensum. Die wolkenverhangene aufgehende Sonne hatte sie im Rücken und die Europabrücke längst passiert. Ungefähr einen Kilometer vor ihr reckten sich die Pfeiler des faschistoid-grandiosen Griesheimer Staukraftwerks in die Höhe. Bei besserem Wetter leuchtete hier der Fluss hellblau und rosa im Morgenlicht. Doch heute war das Wasser schwarz, vom Sturm gekräuselt, aufsteigende Nebelschwaden verbargen das Ufer der Flussinsel. Außer Amelie war kein Mensch unterwegs. Sogar die russischen Fischer, die sonst morgens hier saßen, hatten die Kälte und den Regen gescheut.
    Sie hätte auch nicht kommen sollen. «Hast du keine Angst, morgens so allein da draußen?», wurde sie oft gefragt. Nein, Angst nicht direkt. Doch an Tagen wie heute fühlte sie sich unwohl. Seit sie die zeternden Möwen gesehen hatte, erst recht. So viele Möwen an einer Stelle verhießen nichts Gutes. Das mussten fünfzig, achtzig, hundert Vögel sein. Die wurden doch nicht nur von einem toten Fisch angelockt. Dort musste etwas Größeres im Wasser liegen. Ein Schwan oder ein Kormoran? Sie wollte sich das auf leeren Magen eigentlich nicht anschauen.
    Amelie zwang ihren Blick vom Wasser und den Möwen fort auf den Weg, den sie entlangmusste, und erschrak. Da war ein Mensch. Da vorne hinter der Baubude am Ufer. Heute war Samstag, ein Bauarbeiter konnte es nicht sein. Sie hatte kurz ein Gesicht hervorlugen sehen. Da versteckte sich jemand. Ihr kam eine schreckliche Möglichkeit in den Sinn.
    Dann schüttelte sie den Kopf über ihre eigene Ängstlichkeit und ging weiter.

    Um kurz vor acht hatte jemand den Polizeinotruf gewählt. Wie üblich waren die Schutzpolizei und der Kriminaldauerdienst als Erste vor Ort. Winter vom K 11 spürte, wie seine Laune in den Keller sank, als er aus dem Wagen stieg und ausgerechnet Hilal Aksoy oben auf dem Fußgängerüberweg der Staustufe stehen sah. Er hatte bislang nur zwei- oder dreimal mit ihr zu tun gehabt, und jedes Mal hatte es Probleme gegeben. Einmal mäkelte sie an seiner Vorschriftenauslegung und seiner «politisch inkorrekten» Ausdrucksweise herum, das nächste Mal fand sie ihn «frauenfeindlich», weil er einer tatverdächtigen drogensüchtigen Mutter drastisch klarmachte, dass sie ihre Kinder gerade fürs Leben schädigte. Zuletzt waren Aksoy und er auf dem Sommerfest im Präsidium aneinandergerasselt. Angetrunken hatte sie beleidigtes feministisches Gesülze über angeblich fehlende Beförderungschancen von Frauen im Polizeidienst von sich gegeben. Ausgerechnet nachdem sie selbst höchstwahrscheinlich nur dank Frauenförderung zur Kripo gekommen war, und das auch noch direkt nach der Ausbildung. Winter, ebenfalls angetrunken, hatte entsprechend aggressiv reagiert. Irgendwas hatte ihn geritten zu sagen, sie solle doch bei der türkischen Polizei Karriere machen, wenn es ihr hier nicht schnell genug gehe. Das war verständlicherweise nicht gut angekommen. Seitdem warf sie ihm eisige Blicke zu, wenn sie sich im Foyer über den Weg liefen. Für eine Entschuldigung seinerseits war es jetzt etwas spät.
    Winter musste die letzten zwanzig Meter zur Staustufe laufen: Eine Baubude machte den Uferweg für Wagen unpassierbar. Gleich dahinter, bei der Sportschleuse, stand ein blasser, aber forsch aussehender Mann mit regennassen Haaren und Joggingdress, ein Bein angewinkelt, und machte seelenruhig Dehnübungen, als wäre nichts. «Der Zeuge, der uns alarmiert hat», erklärte der uniformierte Kollege, der Winter begrüßte.
    «Gut. Soll hier warten. Ich gehe erst mal hoch auf die Fußgängerbrücke und verschaffe mir einen Überblick.» Winter fiel das absurde Schild an der Treppe zur Brücke auf: «Zutritt verboten – Fußgänger frei.»
    «Bleiben Sie unten», rief ihm von oben Hilal Aksoy mit vom Wind zerzausten Haaren zu. Sie hielt die Kapuze mit der Hand fest.
    Aha, sie hatte beschlossen, ihn zu siezen. Auch gut.
    «Warum?», brüllte Winter hoch.
    «Hier muss erst mal die Spurensicherung ran», brüllte sie zurück. «Ich hätte selbst nicht hochgehen sollen.»
    «Das hätten Sie sich mal vorher überlegt», rief er zurück. Es schien ihm allerdings zweifelhaft, dass es da oben für die Kriminaltechniker
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