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Dieses Buch gehört meiner Mutter

Dieses Buch gehört meiner Mutter

Titel: Dieses Buch gehört meiner Mutter
Autoren: Erich Hackl
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hätte ich viel darum gegeben,
    es wär so gekommen. Nur nicht mein Leben.
    [97]  Er wurde erschossen, nicht geköpft,
    immerhin war er ein Funktionär.
    Nachher taten alle erleichtert.
    »Er hat sich an unserer Jugend vergangen.«
    Aber der Hansl hatte nie was bemerkt.
    Dabei hat er ihn oft, wenn es spät wurde,
    nach Hause gebracht. Er und der Hirsch
    zu zweit auf dem Kutschbock im Finstern.
    »Anlassig, zudringlich? Nicht die Spur!«
    Zwar, der Edi behauptet, der Hirsch
    habe ihn einmal rund um den Tisch gejagt.
    Aber der Edi hat vieles behauptet, nur
    damit er die Lacher auf seiner Seite hat.
    Der Hirsch war Förster bei der Herrschaft Kinsky.
    Als der Jirku zur Wehrmacht eingezogen wurde,
    ernannte man ihn zum Ortsgruppenleiter.
    Er mußte den Volkssturm organisieren:
    fünf Invalide und ein Schüppel Kinder.
    Gewissenhaft war er. Sonst kann ich nur sagen:
    Ich weiß von keinem, den er angezeigt hätte.
    Ein paar Rotzbuben, das hat mich geärgert,
    haben sich oft an ihn gedrückt, ohne Genierer,
    damit er ihnen eine Halbe Most oder Bier zahlt.
    Dieselben, die dann sagten: »Ein Warmer,
    höchste Zeit, daß sie ihn heimgedreht haben«,
    und ich hätte sie am liebsten erschlagen.
    [98]  An einem Sonntag ist er noch einmal gekommen.
    Meinem Vater hat er gesagt, wo sein Testament ist,
    in der Tischlade ganz hinten, und die Geldtasche,
    wegen dem Eingraben und weil er aufschreiben ließ.
    Sein Kollege, der Effert, mußte ihn festnehmen
    und ans Gericht in Linz überstellen. Er legte ihm
    entgegen der Vorschrift keine Handschellen an.
    Später las ich in einem Buch, er habe die Jungen
    auf den Endkampf getrimmt. »Ehe es dem Feind
    in die Hände fällt, brennen wir Leonhard nieder.«
    Ich bin dagegen. Die Wahrheit liegt nie in der Mitte.
    [99]  Für mich begann der Krieg,
    als er dem Ende zuging.
    Das erklärt mein Verkennen
    von Ursache und Wirkung.
    Seine Vorboten waren die Flüchtlinge,
    denen wir eine Einbrennsuppe,
    eine Schale Milch, zwei Stunden Rast
    bieten konnten, mehr nicht.
    Korn, das sich von selbst vermehrte.
    Dazwischen, danach die Deserteure.
    Drei hatten wir in der Wagenhütte versteckt.
    Der eine ist nicht lange geblieben,
    der zweite war ein Advokat aus Wien,
    der dritte Weinhändler in Hollabrunn.
    Vom vierten wußte ich damals nichts.
    Er lag beim Buchmayr im Stadel.
    Das Motorrad, mit dem er dem Krieg
    davongefahren war, viel zu spät,
    hatte er mit Zweigen abgedeckt.
    Noch war kein Gedanke daran,
    daß ich ihn einmal heiraten würde.
    Dazwischen, danach eine Einheit der SS.
    Während sie Haus und Hof durchkämmte,
    lief ich heimlich zur Wagenhütte hinauf,
    [100]  rüttelte Advokat und Weinhändler wach
    und scheuchte sie in ein neues Versteck.
    Dazwischen, danach die heldischen Sieger,
    an denen uns am meisten erschreckte,
    daß sie sich nicht wie Helden benahmen.
    [101]  Wegrennen, hinten hinaus, während sie vorn schon die schwere Haustür einschlugen. Zum Gattringer in den Graben, wo sie nie hinkamen. Oder mit den Rössern weit hinunter ins Waschenegg. Das Herz schlug mir bis zum Hals, hinter jedem Baum sah ich einen von ihnen sich ducken, und vor allem machte ich mir Sorgen um die Mutter.
    Einmal hatten sie uns überrumpelt. Für die Rösser war es zu spät. Sie suchten sich das Größere aus, den Bubi, der außer mir keinen an sich heranließ, nicht einmal meinen Vater. Er stieg gleich hoch und warf einen von ihnen mit dem Vorderlauf ins Stroh. Daraufhin wollten sie das andere haben, aber die Mutter schrie so laut und lang, bis ihr Anführer abwinkte.
    Einmal trennten sie uns: die Mutter schlossen sie im Schlafzimmer ein, den Vater und mich trieben sie in die Küche. Bevor sie mir das Nachthemd herunterreißen konnten, wischte er die Petroleumlampe vom Tisch, und ich rannte im Finstern zur Tür hinaus. Die Russen hinter mir her, aber sie verloren viel Zeit, weil sie den Riegel am hinteren Hoftor nicht aufbrachten. Ich hörte Schüsse und wußte nicht, gelten sie mir oder haben sie den Vater getötet.
    Einmal saßen wir mit ein paar Heimkehrern in der Stube, da sprangen sie plötzlich beim offenen Fenster herein. Die Männer nahmen sie alle mit.
    Einmal waren wir gerade beim Dreschen. Wir hatten das Scheppern der Räder überhört.
    Einmal kam der Stelzmüllner Hans gelaufen und sagte: »Beim Kreuzstöckl liegt eine Flüchtlingsfrau, Läuse von oben bis unten, drei Russen gehen über sie her.«
    [102]  Einmal hatte ich nicht aufgepaßt. Zum Ausweichen oder Wegrennen war es zu spät.
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