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Messertänzerin

Messertänzerin

Titel: Messertänzerin
Autoren: S Rauchhaus
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Messer
    Jolissa umklammerte den Sorgenstein unter dem Stoff ihrer Vesséla. Der Anhänger prickelte auf ihrer Haut, als könnte er ihre Einsamkeit inmitten der Hochzeitsgesellschaft fühlen. Mit geübtem Lächeln bahnte sie sich einen Weg durch den überfüllten Saal. Über die Köpfe der Gäste hinweg hatte sie gesehen, wie die Diener die Terrassentüren öffneten, damit kühle Nachtluft hereindringen konnte, und dorthin zog es sie. Das blasse Mondlicht erinnerte sie an andere Nächte, an den Duft der Schattenkelche, die an der Hauswand emporwuchsen. Und an seine leise Stimme. An seine geflüsterten Lügen.
    Jolissa hatte die Terrasse fast erreicht, als eine Fanfare ertönte. Das Programm ging weiter, sie musste ihren Platz einnehmen. Ein Diener entdeckte sie am Rande des Gewühls und führte sie zurück zu ihrem Stuhl und an die Seite ihres Bräutigams.
    Plötzlich ging ein empörtes Raunen durch die Menge. Aber wem galt es? Jolissas Blick folgte denen der anderen in Richtung Bühne. Obwohl es ihr völlig gleichgültig war, was noch geboten wurde. Noch ein Sänger, noch ein Fächertanz, noch ein Gedicht zu ihren Ehren? Was sie dort sah, erstaunte sie aber doch. Eine Frau trat durch den Vorhang. Ihre Vesséla war nicht ungewöhnlich geschnitten – sie floss so weit über ihre Gestalt, dass man ihre Figur nicht einmal erahnen konnte. Dazu trug die Gauklerin eine Maske, wie es sich für unverheiratete Frauen in Anwesenheit von fremdenMännern gehörte. Aber ihre Kleidung … war schwarz! Nicht dunkelbraun wie bei der Kaste der Krieger. Nein, richtig tiefschwarz! Die Farbe, die den Toten vorbehalten war. Ihre Maske war aus schwarzer Spitze und so durchsichtig, dass man die grellrot geschminkten Lippen darunter mehr als nur erahnen konnte. Im nächsten Moment warf die Frau auf der Bühne die Kapuze zurück und entblößte ihr schwarzes Haar, das offen über ihre Schultern fiel.
    »Unglaublich!«, wetterte eine Frau, die in das helle Blau der regierenden Kaste gekleidet war.
    Jolissas Ehemann stand auf und warf seinen Gästen blitzende Blicke zu.
    »Dies ist meine Hochzeit!«, sagte er gefährlich leise, und dennoch erreichten seine Worte den letzten Winkel des Saals. »Und nun lasst uns der Tänzerin zusehen. Ich habe sie eingeladen!«
    Erstaunt stellte Jolissa fest, dass sofort tiefe Stille einkehrte, als wären die vielen Gäste auf einmal nicht mehr da.
    Die Tänzerin hob ihre Hände und drehte die Finger kunstvoll ins Licht, sodass man die spitzen Metallstücke erkennen konnte, die daran befestigt waren. Jolissa war selbst jahrelang in der Kunst des Tanzens unterwiesen worden und hatte gelernt, mit Holzaufsätzen zurechtzukommen, die die Finger länger und geschmeidiger wirken ließen. Aber diese Stücke waren doch sehr unkonventionell. Gleich darauf erkannte Jolissa auch ihren Sinn. Die Tänzerin, die in ihrer Körperhaltung verharrte, begann langsam und beinahe hypnotisch, die Metallstücke gegeneinanderzuschlagen. Die Musiker wollten anheben, das scharfe Geräusch mit einer Melodie aufzuweichen, dochdie Frau machte eine elegante, aber entschiedene Geste in ihre Richtung, und die Musiker setzten sich ergeben wieder hin.
    Der metallene Rhythmus war wie ein Bann. Er legte sich über die Menschenmenge und ließ sie schweigend abwarten. Die Frau begann ihren Körper im Takt zu bewegen – zunächst langsam, nur einen Arm, einen Fuß, dann schneller. Ihr Tanz hatte nicht viel von dem traditionellen Njurtanz, den die hohen Töchter lernten, und als sie sich zum ersten Mal drehte, flogen ihre Haare, wild und ungebändigt. Jolissas Mundwinkel zuckten. Das Schwarz erinnerte sie an ihre Freundin Divya, das einzige Mädchen, an dem sie diese Haarfarbe je gesehen hatte. Fast jede Frau in Pandrea hatte entweder von Natur aus blondes Haar oder färbte es sich nach dem Schönheitsideal – je heller, desto besser. Divya aber durfte ihr Haar nicht färben. Sie war eine Dienerin, und damit stand sie unter jeder anderen Kaste der Stadt.
    Auf einmal stieß eine Frau einen heiseren Schrei aus, und ein Raunen ging durch die Menge. Die Gauklerin hatte mit einer kurzen Handbewegung einige Nähte an ihrer Kleidung gelöst. Solange sie sich drehte, schwang der dunkle Stoff der Vesséla in mehreren Lagen empor und entblößte die Figur der Tänzerin. Darunter trug sie ein hautenges schwarzes Nichts, in dem sie sich sinnlich, weiblich und mit unergründlichen dunklen Augen bewegte. Jolissa warf einen Blick ins Publikum und sah, dass die
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