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Der stille Schrei der Toten

Der stille Schrei der Toten

Titel: Der stille Schrei der Toten
Autoren: Linda Ladd
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Prolog
Leben mit Vater
    Niemand wusste, was im Haus des Einbalsamierers wirklich geschah. Es lag an einer staubigen Straße außerhalb der Stadt und war vollkommen unauffällig. Von einem Wald aus Weiß-eichen, Ahorn- und Hickorybäumen umgeben, war es im Jahr 1902 erbaut worden, aber die weißen Schindeln waren von den vielen Bewohnern, die das Haus im Lauf der Jahrzehnte gesehen hatte, unzählige Male neu gestrichen worden. Eine umgebaute Remise befand sich am hinteren Ende des Anwesens, wo ein breiter Bach über glatte, braune Steine dahinfloss. Beide Gebäude waren vernachlässigt und grau verwittert, und von den weißen Schnitzornamenten über den Veranden und den ehemals prunkvollen Geländern blätterte die Farbe, was dem gesamten Anwesen einen öden, verlassenen Eindruck verlieh. Das Esszimmer des Wohnhauses hatte einen Sitzplatz in einem Erkerturm mit Blick auf die umlaufende Veranda, und über dem Esszimmer, im Obergeschoss des Erkers, lag ein großes Schlafzimmer.
    Das Anwesen befand sich seit seiner Erbauung im Besitz ein und derselben Familie; von Generation zu Generation war der jeweils älteste Sohn der Eigentümer und Nachfolger im einträglichen Metier des Balsamierers tätig gewesen. Die weitläufigen Räume hatten die Zeiten überdauert, düster und mit verblichenen, geblümten Tapeten und schweren Mahagonimöbeln, vor denen die Kinder sich in der Dunkelheit fürchteten. Das unvollendet gebliebene Dachgeschoss war verstaubt, und es gab dort nichts außer einigen Schrankkoffern, Büchern und dem Geruch von Mottenkugeln.
    Das Haus hatte nie Besucher, es sei denn, jemand kam mit dem Auftrag, einen Verstorbenen für die Trauerfeier und die Beerdigung auf einem der Friedhöfe der Stadt vorzubereiten. Der Balsamierer verrichtete seine Arbeit im kühlen Untergeschoss des Hauses. Zu dem Zweck war unter einer der Seitenveranden ein Zugang erbaut worden, der über eine Rampe in den laborartigen Arbeitsraum führte. Die Toten wurden mit schwarzen Leichenwagen angeliefert, und die Männer, die sie brachten, dämpften ihre Stimmen, wenn sie die Bahren über den mit Backstein gepflasterten Gehweg zur Kellertür rollten.
    Der Balsamierer war ein groß gewachsener Mann von kantiger Statur und kräftig genug, die Toten, wie schwer sie auch waren, alleine auf die kalten Stahltische im Keller zu hieven. Er trug einen schwarzen Stiftenkopf und einen Vollbart, den er manchmal zu trimmen vergaß, und bewohnte das Haus zusammen mit Frau und Kind. Er war ein sehr strenger Mann, der darauf bestand, dass die familiären Verhaltensregeln akribisch beachtet wurden. War das nicht der Fall, z.B. wenn seine Frau oder das Kind sich seinen Anordnungen widersetzten, begab er sich bedachtsam zu einer Kammer oberhalb der Kellertreppe, in der an einem Haken das ehemalige Abziehleder für das Rasiermesser hing. Dieses Züchtigungsinstrument hatte es in der Familie gegeben, soweit er sich zurückerinnern konnte. Sein Vater hatte es angewandt, um einen Mann aus ihm zu machen, und davor hatte sein Großvater danach gegriffen. Es war aus schwarzem Leder, dünn geworden im Lauf der Zeit und hier und da mit einigen bräunlich schimmernden Stellen, und die metallene Schnalle am Ende war verfärbt und halb zerbrochen, sodass sie eigentümliche Narben auf dem Fleisch hinterließ, die aussahen wie Halbmonde. Der Balsamierer hatte viele Halbmonde auf seinem Rücken, ebenso seine Frau und das Kind.
    Als das Kind ein Alter erreicht hatte, in dem die Mutter ihm Lesen und Rechnen beibringen konnte, hatten sie beide gelernt, die strengen Regeln im Haus des Balsamierers einzuhalten. Die Mutter behielt das Kind jede Minute des Tages in ihrer Nähe, nur ab und an verließen sie heimlich das Haus für einen Spaziergang im Wald, damit das Kind sich austoben und spielen konnte. Sobald sie weit genug vom Haus entfernt waren, wagten sie es, die Stimme zu erheben – innerhalb des Hauses sprach man durchweg in einem ehrerbietigen Flüsterton. Sie blieben nie lange aus und achteten stets darauf, rechtzeitig zurück zu sein, damit genügend Zeit für die Zubereitung des Abendessens blieb, denn erst abends verließ der Balsamierer die Toten im Keller des Hauses. Das gemeinsame Abendessen war seit jeher ein im Haus des Balsamierers streng eingehaltenes Ritual. Obgleich sie nie einen Gottesdienst besucht hatten, legten alle drei allabendlich ihren Sonntagsstaat an und begaben sich in das Esszimmer mit seinen bräunlichen Tapeten, auf denen vor wolkenverhangenen
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