Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße
Autoren: Kurt Mahr
Vom Netzwerk:
er sich von den beiden Generälen überreden lassen.
    »Nein, Sire, das ist nicht meine Absicht«, antwortete Wedell respektvoll. »Es wird bald dunkel. Wir können den Angriff auf den Spitzberg einfach einschlafen lassen. In der Nacht wird umgruppiert. Bei Morgengrauen fallen wir gemeinsam über Laudon her. Haben wir den, dann fallen uns die restlichen Russen von selbst in die Hand.«
    Jake war entsetzt. Genau das war seine Absicht! Wenn der Kurier Seydlitz nicht erreichte – wofür er mit der Nadelpistole zu sorgen gedachte –, dann würde der Kampf um den Spitzberg bei Einbruch der Dunkelheit einfach zum Erliegen kommen. Und in der Nacht würde einer der Herren auf dem Feldherrnhügel den Plan entwickeln, von den Russen abzulassen und statt dessen Laudon und seine Österreicher anzugreifen. Da Laudon die Preußen am Spitzberg festgebissen glaubte, würde diese Attacke völlig überraschend kommen und ohne Zweifel mit dem Sieg der Preußen enden.
    Und jetzt – Jake Wedells genialer Plan vorweggenommen durch einen Vorschlag, den sein entfernter Verwandter machte?!
    »Das hört sich akzeptabel an«, bekannte der König. »Was meint Ihr, Finck?«
    »Ich bin dafür, Sire.«
    Friedrich ging ein paar Schritte auf und ab. Die Anstrengungen der vergangenen Tage waren ihm anzumerken. Er ging stark vornübergebeugt und stützte fast das ganze Gewicht auf den Krückstock. Schließlich blieb er vor den beiden Generälen stehen.
    »Ihr gewinnt, meine Herren!«, sagte er. »Laßt den Seydlitz, wo er ist, und gebt den Kerls auf dem Spitzberg zu verstehen, daß sie allmählich ablassen sollen.«
     
    Die ganze Nacht über irrte Jake F. Wedell wie von Sinnen durch die Gegend. Sein Pferd zog er hinter sich her. Wenige Minuten einer Unterhaltung auf einer kleinen Kuppe östlich des Spitzberges hatten den Traum eines Lebens zunichte gemacht. Wie hatte das geschehen können? Wie konnte König Friedrich sich gegen die Einbeziehung seines Generals Seydlitz ausgesprochen haben, wo die Geschichte doch nachwies, daß Seydlitz am Spitzberg eingegriffen und dadurch Laudon freie Hand gegeben hatte?
    Erst gegen Morgen begann Jake, sich auf einige Dinge zu besinnen, die er in Green Belt – mein Gott, wie weit das entfernt war! – Pete Janssen hatte sagen hören: Wer meint, die Zeit sei eine gerade Straße, die nur von Nord nach Süd oder von Süd nach Nord befahren werden kann, der irrt sich. Die Zeit ist zumindest eine Ebene, wenn nicht sogar ein Raum, in dem nahezu unendlich viele Bewegungsrichtungen denkbar sind. Die Zeit – das ist die Verwirklichung aller denkbaren Universen, und der Abstand zwischen zwei engstbenachbarten Universen ist das, was wir ein Zeitquant nennen.
    So hatte Pete Janssen gesprochen, immer und immer wieder. Aber Jake Wedell hatte nie darauf gehört. In seinem Bewußtsein war die herkömmliche Vorstellung von der Zeit als einer geraden Straße so fest verankert, daß er sie selbst auf die Worte eines Mannes hin, der es besser wissen mußte, nicht in Zweifel zog. Jetzt endlich war ihm ein Licht aufgegangen. Er war nicht einfach in die Vergangenheit gereist. Er hatte sich auch seitwärts bewegt und war in einem der Universen gelandet, in dem die Preußen – auch ohne Jake F. Wedells Dazutun – die Schlacht von Kunersdorf gewonnen hatten.
    Bei Morgengrauen erreichte er Trettin und erfuhr, daß Laudon am Oderufer vernichtend geschlagen worden war. Die Russen auf dem Spitzberg hatten daraufhin kapituliert. Der Große Friedrich war in aller Munde. Von der Katastrophe, von der die Geschichtsbücher berichteten, war nicht die Rede. Jake Wedell aber packte die Angst. Wenn die Reise zeitaufwärts schon nicht auf geradem Wege vor sich gegangen war, wer garantierte ihm dann, daß sie es in umgekehrter Richtung tun würde? Bestand überhaupt die leiseste Hoffnung, daß er, wenn er wieder im Jahre 2023 anlangte, dieselbe Welt wiederfinden würde, die er vor anderthalb Tagen verlassen hatte?
    Panik im Nacken, ritt er sein Pferd im Galopp in die Heide hinaus. Er brauchte kaum eine halbe Stunde, um den Rand des Gehölzes zu erreichen, in dem er den Chronoskaphen versteckt hatte. Für dieselbe Strecke hatte er auf Trupjes Ochsenkarren drei Stunden gebraucht. Am Waldrand ließ er das Pferd stehen und gab ihm die Zügel frei. In wilder Flucht jagte er durch das Gehölz. Eine Weile schien ihm, als könne er die stählerne Kugel nicht wiederfinden, und die Angst wurde zur Höllenqual. Schließlich jedoch entdeckte er das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher