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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße
Autoren: Kurt Mahr
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Jake Wedell konnte sie von seinem Versteck aus sehen. Auch verstand er Befehle, besonders, wenn sie laut gerufen wurden. Aber der größte Teil der Unterhaltung entging ihm. Er sah den König heftig gestikulieren, ärgerlich werden, mit seinen Offizieren schimpfen. Er hatte seinen Plan sorgfältig zurechtgelegt und es sich zur Auflage gemacht, daß er sich während der entscheidenden Stunden der Schlacht von niemand sehen lassen würde. Gegen vier Uhr wollte er sich auf den Weg nach Kunersdorf machen und hinter den letzten Bauernkaten auf den Kurier an Seydlitz warten, der, wie er wußte, dort vorüberkommen würde. Aber die Nähe des geschichtlichen Geschehens, die unerhörte Aussicht, an einer der wichtigsten Entscheidungen der neueren Geschichte – so wenigstens sah es Jake Wedell – in eigener Person teilzunehmen, warfen seine guten Vorsätze über den Haufen. Er sah Zivilpersonen auf dem Hügel, um die sich niemand zu kümmern schien. Sie waren gekleidet wie er, nur nicht so sorgfältig. Was konnte es schaden, wenn er sich unter sie mischte? Er konnte sich als einer von Seydlitz’ Kundschaftern ausgeben. Auf dem Hügel befanden sich nur Leute von Wedell und Finck. Man würde ihn nicht kennen.
    Der Entschluß folgte dem Gedanken auf dem Fuße. Jake kroch aus dem Versteck und stieg von der Südseite her, auf die niemand acht hatte, den kleinen Hügel hinauf. Dicht unterhalb der Kuppe hatten sich ein paar Zivilisten ins Gras gehockt. Sie wirkten müde und abgespannt und sprachen kaum ein Wort. Bei ihnen ließ Jake sich nieder. Sie schenkten ihm kaum einen Blick, und er war’s zufrieden. Von da, wo er saß, waren es nicht mehr als fünf Meter bis zu der Stelle, an der der König mit seinen Offizieren konferierte. Wenn er die Ohren spitzte, konnte er fast alles hören, was dort gesprochen wurde.
    Jake Wedell befand sich mitten im Brennpunkt der Geschichte.
     
    Um zwei Uhr traten die Preußen zum Sturm gegen die russische Stellung auf dem Spitzberg an – genauso, wie es die Geschichte vorschrieb. Von neuem donnerten die Kanonen. Qualm und Dunst begannen, die Szene einzuhüllen. Zu Anfang war der Osthang des Berges, von wo die preußische Hauptmacht angriff, deutlich zu sehen gewesen. Allmählich jedoch verengte sich das Blickfeld. Die kleine Kuppe sah ein ständiges Kommen und Gehen von Kurieren und Boten. Wedell und Finck befanden sich bei ihren Truppen. Der König selbst nahm am Kampf teil. Man erschoß ihm zwei Pferde unter dem Leib, und ein zufälliger Schuß hätte ihn ins Herz getroffen, wenn die Kugel nicht an einem Etui in seiner Brusttasche abgeglitten wäre.
    Um vier Uhr war klar, daß der Spitzberg mit den vorhandenen Kräften nicht bezwungen werden konnte. König und Generäle fanden sich von neuem auf dem Feldherrnhügel ein, während am Osthang des Spitzberges die Schlacht weitertobte. Der Augenblick nahte heran, auf den Jake Wedell gewartet hatte. Er stand auf, um besser zu hören, was unter den Führern des preußischen Heeres besprochen wurde.
    »Der Seydlitz muß her!« schimpfte der König. Er sprach deutsch mit einem französischen Akzent. »Er hat den ganzen Tag noch nichts getan. Wird Zeit, daß er sich seine Lorbeeren verdient!«
    »Seydlitz bindet Laudon, Sire«, wandte Finck ein. »Seydlitz abziehen, heißt Laudon loslassen, und damit kommen wir in des Teufels Küche.«
    »Ja, ja, das weiß ich wohl«, bekannte Friedrich ärgerlich. »Aber die Bataille ist festgefahren, und von irgendwoher muß die Entscheidung kommen. Was sagt Ihr, Wedell?«
    Jake machte sich sprungbereit. In wenigen Minuten würde der Kurier an Seydlitz abgehen. Er mußte ihm zuvorkommen. Vorläufig allerdings bannte ihn die Spannung noch an seinen Platz. Er brauchte ja keinen großen Vorsprung, nur ein paar hundert Meter, damit er sich einen sicheren Standort aussuchen konnte.
    »Finck und ich sind einer Meinung, Majestät«, antwortete der General. »Wird der Seydlitz abgezogen, bricht der Laudon los. Ich meine, Sire, wir sollten auf den Spitzberg verzichten.«
    »Und mit dem halben Sieg zufrieden sein?« herrschte Friedrich ihn an.
    Jake begann zu staunen. Das, was er gelernt hatte, stimmte nicht mit dem überein, was er hier hörte. Nach seinen Informationen war Friedrich herrisch, störrisch und starrköpfig gewesen und hatte die Weisheit seines Entschlusses, Seydlitz und seine Kavallerie in den Kampf um den Spitzberg zu ziehen, bis zum Abend nicht in Zweifel gezogen. Hier jedoch sah es beinahe so aus, als wolle
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