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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße
Autoren: Kurt Mahr
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Österreichern in Berührung zu kommen, die zwischen Kunersdorf und den weiter nördlich gelegenen Ortschaften bis fast hinauf nach Görlitz ständig patrouillierten und rekognoszierten. Am Rande eines Moores entlangreitend, gelangte er schließlich in den Elsenbruch, ein halb mooriges, halb waldiges Gelände. Dort schlug er einen Bogen nach Osten und überquerte die Straße zwischen Kunersdorf und Trettin an einer Stelle, an der die Österreicher gerade nicht aufpaßten. Gegen Sonnenuntergang erreichte er die Kunersdorfer Heide und suchte sich in dem wenig übersichtlichen Gelände einen Platz, an dem er mit seinem Pferd sicher die Nacht verbringen konnte.
    Er war kaum zwei Kilometer von den russischen Schanzen entfernt, die morgen von den Preußen erstürmt werden sollten; und als er sich sein Lager bereitete, hörte er die Hörner und Trompeten, mit denen die Russen den Zapfenstreich bliesen. Er schlief lange nicht ein. Die Ereignisse des kommenden Tages versetzten ihn in Erregung, und wenn er daran dachte, wie sich seine eigene Lage im Laufe der vergangenen vierundzwanzig Stunden verändert hatte, da erfaßte ihn ein Schauder, und er mußte sich besinnen, wie alles zugegangen war, um sich zu überzeugen, daß er dies alles nicht nur träumte.
    Schließlich übermannte ihn doch der Schlaf. Aber lange konnte er nicht geruht haben, denn er fühlte sich müde und zerschlagen, und es war ringsum noch dunkel, als das Geschmetter der Trompeten von den nahen russischen Schanzen ihn weckte.
    Rasch war er auf den Beinen. In der Nähe, an der Straße nach Reppen, lief ein Bach vorbei, an dem er notdürftig Morgentoilette machte. Die fortwährende Unruhe hinter den russischen Schanzen wies darauf hin, daß der Aufmarsch des preußischen Heeres von den Spähern bereits bemerkt worden war und man sich zur Schlacht rüstete. Wedell tränkte sein Pferd, stieg auf und ritt im Schutze der frühmorgendlichen Dunkelheit noch um einen Kilometer näher an die Schanzen heran, bis er im Vorfeld des Spitzberges eine kleine, unscheinbare Kuppe erreichte, den Friedrich der Große, wie er aus den Geschichtsbüchern wußte, beim nachmittägigen Angriff auf die letzte nennenswerte russische Stellung als Feldherrnhügel benützen würde. Am Fuß der Kuppe fand Jake in einem Weidengestrüpp ein leidliches Versteck. Er band sein Pferd an und ging sich umsehen.
    Bei Morgengrauen hörte er aus der Ferne Gewehrfeuer. Das mußten die Österreicher sein, die sich mit der preußischen Vorhut herumbalgten. Die aufgehende Sonne zeigte die Russen hinter ihren Schanzen kampfbereit und draußen auf der Ebene, die sich bis zur Oder hinzog, Laudons Truppen in sorgfältig gestaffelter Formation. Jake Wedells Erregung hatte die Intensität eines Fiebers angenommen. Er zitterte am ganzen Körper. Von Zeit zu Zeit mußte er sich mit Gewalt zur Ruhe zwingen und holte dann die Nadelpistole aus der Tasche, um ein paar Zielübungen zu machen. Die mit einem narkotischen Gift imprägnierten, winzigen Nadeln mußten unbedingt ihr Ziel finden, wenn er in der beginnenden Schlacht erfolgreich sein wollte.
    Später am Morgen begann der Kanonendonner. Die Preußen waren zum Angriff auf die russischen Bastionen angetreten. Von Norden her griff Fincks Armeekorps an. General Wedell hatte einen Bogen um Bischofsee und durch die Kunersdorfer Heide geschlagen und stürmte von Osten her vor. Zwischen den Rauch- und Staubwolken sah Jake das verwaschene Blau der preußischen Uniformen. Nach Stunden heftigsten Kampfes waren die Russen aus der Mehrzahl ihrer Stellungen vertrieben. Im Nordwesten hielt General Seydlitz die Österreicher gebunden. Jake Wedell wich in sein Weidenversteck zurück, als er einen etwa fünfzig Mann starken Trupp Berittener auf die kleine Kuppe zukommen sah, an deren Fuß die Weiden standen.
    Durch das Gestrüpp hindurch beobachtete er. Der kleine Mann auf dem Pferd, der während des Sprechens mit einem Krückstock gestikulierte – das war er: der Große Friedrich, der Alte Fritz, wie ihn die Leute nannten. An seiner Seite zwei Generäle, Finck und Wedell, und eine Schar von Stabsoffizieren. Dazwischen Boten, Kuriere, Späher, sogar ein paar Zivilisten. Es war kurz nach ein Uhr nachmittags. Die Schlacht hatte eine Pause eingelegt. Die Kanonen schwiegen. Nur hier und dort war noch Gewehrfeuer zu hören. In Kunersdorf brannte eine Reihe von Häusern. Grauer Qualm legte sich über die Ebene.
    Der König und sein Gefolge bezogen die Kuppe des kleinen Hügels.
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