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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte
Autoren: Madeleine L'Engle
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hundemüde. Sie konnte sich nicht konzentrieren, und immer wieder fielen ihr die Augen zu. Als sie die wesentlichsten Export- und Importgüter Nicaraguas aufzählen sollte, hatte sie keine Ahnung, obwohl sie das Zeug noch am Abend vorher auswendig gelernt hatte. Mit einer spöttischen Bemerkung schickte die Lehrerin sie auf ihren Platz zurück, die Klasse lachte, und Meg war wütend.
    »Als ob so wichtig wäre, womit in Nicaragua gehandelt wird!« knurrte sie.
    »Wenn du frech wirst, Margaret, mußt du die Klasse verlassen!« erwiderte die Lehrerin streng.
    »Gut, dann gehe ich eben!« brüllte Meg und stürmte hinaus.
    In der nächsten Stunde wurde sie zum Direktor gerufen.
    »Was ist dir denn diesmal über die Leber gelaufen?« fragte Herr Jenkins, keineswegs unfreundlich.
    Meg blickte trotzig zu Boden. »Nichts«, knurrte sie.
    »Deine Lehrerin sagt, du hättest dich unmöglich aufgeführt.«
    Meg zuckte mit den Schultern.
    »Merkst du denn nicht selbst, daß du dir mit deinem Verhalten alles verscherzt?« redete der Direktor auf sie ein. »Also, Meg, ich traue dir zwar zu, daß du mit einigem guten Willen mit der Klasse mithalten könntest – du müßtest nur ordentlich mitarbeiten —, aber nicht alle deine Lehrer teilen meine Auffassung. Es wird Zeit, daß du dich mehr anstrengst. Das kann dir keiner abnehmen.«
    Meg schwieg.
    »Also. Meg! Willst du es nicht wenigstens versuchen?«
    »Ich weiß doch gar nicht, was ich tun soll, Herr Jenkins«, sagte Meg leise.
    »Nun, du könntest zum Beispiel regelmäßig deine Hausaufgaben machen. Warum bittest du nicht notfalls deine Mutter, dir dabei zu helfen?«
    »Weil ich das nicht will.«
    »Meg, hast du Sorgen? Bedrückt dich etwas? Fühlst du dich zu Hause nicht wohl?« erkundigte sich Herr Jenkins.
    Jetzt endlich blickte Meg auf. Sie schob sich mit der für sie so typischen Geste die Brille zurecht und funkelte ihn an: »Zu Hause ist alles in bester Ordnung!«
    »Das höre ich gern. Ich dachte ja nur, du könntest vielleicht darunter leiden, daß dein Vater fort ist.«
    Jetzt war Meg auf der Hut. Sie zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und strich mit der Zunge lauernd über ihre Zahnklammern.
    »Habt ihr in letzter Zeit etwas von ihm gehört?«
    Täuschte sie sich, oder klang das wirklich nicht bloß nach oberflächlicher Anteilnahme, sondern nach schlecht verhüllter Neugier? »Das wüßtest du gern, was?« dachte sie. Dabei war er der letzte, dem sie etwas verraten würde. Zumindest einer der letzten.
    Das Postfräulein mußte wissen, daß beinahe ein Jahr vergangen war, seit Vater ihnen zum letztenmal geschrieben hatte. Das hatte sie wahrscheinlich überall herumerzählt, und die Leute zogen daraus bestimmt die abenteuerlichsten Schlüsse.
    Herr Jenkins wartete geduldig auf eine Antwort, aber wieder zuckte Meg bloß mit den Schultern.
    »Womit war dein Vater eigentlich beschäftigt?« fragte Herr Jenkins. »War er nicht Naturwissenschaftler?«
    »Nicht: war! Er ist Physiker!« Meg war so böse, daß sie geradezu die Zähne fletschte und dem Direktor den abscheulichen Drahtverhau in ihrem Gebiß zeigte.
    »Meg!« sagte Herr Jenkins. »Findest du nicht, daß es allmählich an der Zeit wäre, den Tatsachen ins Auge zu blicken?«
    »Aber das tue ich doch!« rief sie. »Ich blicke sogar viel lieber den Tatsachen ins Auge als manchen Menschen!«
    »Dann darfst du nicht ausgerechnet deinen Vater davon ausnehmen.«
    »Lassen Sie gefälligst meinen Vater aus dem Spiel!« brüllte sie.
    »Hör auf zu schreien!« sagte Herr Jenkins scharf. »Oder willst du, daß die ganze Schule dich hört?«
    »Na, wenn schon!« begehrte Meg auf. »Was ich sage, darf jeder hören. Können Sie das auch von sich behaupten?«
    Herr Jenkins seufzte. »Macht es dir eigentlich Spaß, von allen Schülerinnen diejenige zu sein, die am meisten Radau macht und am wenigsten mitarbeitet?«
    Meg ging nicht darauf ein. Sie beugte sich über den Tisch und sagte dem Direktor mitten ins Gesicht: »Herr Jenkins! Sie kennen doch meine Mutter. Sie werden gewiß nicht bestreiten wollen, daß meine Mutter sehr wohl den Tatsachen ins Auge blicken kann. Sie ist Wissenschaftlerin und zweifacher Doktorin Biologie und Bakteriologie. Es ist ihr Beruf, nach Tatsachen zu forschen. Sehen Sie, wenn meine Mutter eines Tages sagen sollte, daß unser Vater nicht mehr zurückkommt, werde ich es ihr glauben. Aber solange sie sagt, er wird wiederkommen, habe ich nicht den geringsten Grund, nicht den allergeringsten,
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