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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte
Autoren: Madeleine L'Engle
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zurückschicken würde. Schließlich ist sie ja mit uns verbündet.«
    Einen kurzen, schrecklichen Augenblick lang glaubte Meg seinen Worten, und in diesem winzigen Augenblick begann ES blitzschnell, sich in ihr Gehirn einzuhaken.
    »Nein!« brüllte sie dann aus Leibeskräften. »Nein! Du lügst!«
    Und schon mußte ES seinen Griff wieder lockern.
    Solange meine Wut stark genug ist, kann ES mir nichts anhaben.
    Ist es das, was ich besitze, und das ES nicht hat?
    »Unsinn!« widersprach Charles Wallace. »Du hast nichts, das ES nicht ebenfalls hätte.«
    »Du lügst!« entgegnete sie und empfand nichts als Zorn gegen diesen Jungen, der überhaupt nicht wie Charles Wallace war. Nein, es war nicht bloß Zorn; es war Haß, blindwütiger, nackter Haß …
    … und je mehr sie sich in diesem Haß verlor, um so begieriger saugte ES sich in sie ein. Die roten Nebel schwammen vor ihren Augen; ihr Magen krampfte sich in dem Rhythmus zusammen, den ES ihr vorgab. Ihr ganzer Körper zitterte vor Haß, zitterte unter der Gewalt, die ES über sie bekam …
    Mit letzter Kraft, mit dem letzten Funken ihres Bewußtseins riß sie Geist und Körper aus der Umklammerung los. Nein, Haß war es nicht, das ES nicht besaß. Von Haß war ES völlig beseelt.
    »Du lügst schon wieder!« rief sie, »und auch das mit Frau Wasdenn ist gelogen!«
    »Frau Wasdenn haßt dich«, sagte Charles Wallace.
    Und damit hatte ES den entscheidenden, den tödlichen Fehler gemacht.
    Denn als Meg, beinahe automatisch, erwiderte: »Nein, Frau Wasdenn liebt mich. Sie hat mir selbst gesagt, daß sie mich liebt!« – da wußte sie es plötzlich.
    Sie wußte es!
    Liebe!
    Das war es, was sie besaß, und was ES nicht hatte.
    Sie hatte die Liebe, die Frau Wasdenn ihr gegeben hatte; und die Liebe ihres Vaters und ihrer Mutter; und die Liebe von Charles Wallace, dem echten Charles Wallace; und die Liebe der Zwillinge; und die Liebe des Tantentiers …
    Und diese Liebe erwiderte sie von ganzem Herzen.
    Aber wie sollte ihr die Kraft der Liebe jetzt nützen? Wo sollte sie mit ihr ansetzen?
    Wenn sie ES in ihre Liebe einbezog, würde ES vielleicht schrumpfen und zugrunde gehen – denn Meg war sicher, daß ES gegen Liebe nicht gewappnet war. Aber dafür war sie zu töricht und schwach, zu gering und nichtig: Sie war außerstande, ES zu lieben. Auch wenn man das vielleicht von ihr erwartete, überstieg es doch ihre Kräfte.
    Aber Charles Wallace, ja, ihn konnte sie lieben!
    So wie sie vor ihm stand, konnte sie Charles Wallace ihre Liebe entgegenbringen.
    Ihrem Charles Wallace, dem wirklichen Charles Wallace; dem Kind, um dessentwillen sie nach Camazotz zurückgekommen war, bereit, ES gegenüberzutreten. Ja, ihn, den dummen kleinen Jungen, der um so vieles klüger war als sie und doch auch wieder so schutzlos und verwundbar, ihn konnte sie lieben.
    Charles. Charles. Ich habe dich lieb. Mein kleiner Bruder, der immer für mich da ist. Komm zurück zu mir, Charles Wallace. Verlasse ES. Komm zurück. Komm nach Hause. Ich habe dich lieb, Charles. Oh, Charles, ich habe dich ja so lieb.
    Tränen flossen ihr über die Wangen, und sie merkte es nicht.
    Nun vermochte sie es sogar, diesem ferngesteuerten Wesen ins Gesicht zu blicken, das nichts mit Charles Wallace gemein hatte. Sie vermochte es, ihn anzublicken und ihm ihre Liebe zu schenken.
    Ich hab dich lieb. Charles Wallace, du bist mein ein und alles, du bist mir lieb und teuer, du bist mein Herz und meine Seele. Ich hab dich lieb. Ich hab dich lieb. Ich hab dich lieb.
    Langsam schloß sich sein klaffender Mund. Langsam belebten sich die verkrampften Augen. Langsam verebbte das abstoßende Zucken seiner Stirn. Langsam kam er auf sie zu.
    »Ich hab dich lieb!« schrie sie ihm entgegen. »Ich hab dich lieb, Charles! Ich hab dich lieb!«
    Und plötzlich rannte er, rannte er um sein Leben, begrub er sie in seinen Armen, schluchzte er immer und immer wieder: »Meg! Meg! Meg!«
    »Ich hab dich lieb, Charles!« rief sie noch einmal, und begann wieder zu heulen. »Ich hab dich lieb! Ich hab dich lieb! Ich hab dich lieb!«
    Ihre Tränen flossen ineinandner …
    … ein Strudel aus Finsternis. Explodierende Kälte. Ein wütender, rachsüchtiger Schrei, der sie zu zerreißen drohte.
    Wieder Finsternis. Aber in diese Dunkelheit drang ein Ahnen, beinahe eine Gegenwart: Frau Wasdenn gab Meg zu fühlen, daß sie gerettet waren, daß ES sie aus seinen Klauen freigegeben hatte.
    Und dann hatte sie festen Boden unter den Füßen. Jemand war in
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