Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte
Autoren: Madeleine L'Engle
Vom Netzwerk:
matt und milderten das Dunkel der Straße.
    Vor Meg lag das Gebäude des ZENTRALEN Zentralen Nachrichtendienstes. Ob der Mann mit den roten Augen noch immer auf seinem Platz saß? Oder war auch für ihn jetzt Schlafenszeit? Doch nicht dort, in jener Halle, lag jetzt ihr Ziel – obwohl der Mann mit den roten Augen im Vergleich zu ES beinahe tatsächlich der freundliche alte Onkel war, als der er sich ausgegeben hatte. Aber für ihre Suche nach Charles war er nicht länger von Bedeutung. Ihr Weg führte geradewegs zu ES.
    ES ist nicht gewohnt, daß ihm Widerstand entgegengebracht wird. Vater sagte, nur deshalb habe er sich so lange behaupten können. Auch Calvin und ich behielten auf diese Weise eine Zeitlang die Oberhand. Dann hat Vater mich gerettet. Diesmal ist niemand da, der mich retten könnte. Ich muß es allein schaffen. Ich muß selbst widerstehen, wenn ES nach mir greift. Die Widerstandskraft; ist es das, was ich besitze und was ES nicht hat? Nein, bestimmt kann ES viel Widerstand leisten. Es ist nur nicht darauf vorbereitet, daß andere ihm widerstehen.
    Vor ihr riegelte das Gebäude des ZENTRALEN Zentralen Nachrichtendienstes als mächtiger Quader den Platz ab. Meg mußte seitlich ausweichen, um den Klotz zu umrunden. Fast unmerklich verlangsamten sich ihre Schritte.
    Sie hatte nicht mehr weit bis zu dem großen Kuppelbau, in dem ES hauste.
    Ich gehe zu Charles Wallace. Das allein zählt. Nur daran darf ich denken. Wie schön wäre es, wenn ich mich jetzt wieder so dumpf und benommen fühlen könnte, wie zuvor …
    Wie aber, wenn ES ihn irgendwo versteckt hält? Wenn Charles gar nicht mehr da ist?
    Trotzdem muß ich ihn fürs erste dort, in dem Kuppelbau, suchen. Alles weitere wird sich finden.
    Immer langsamer wurden ihre Schritte. Sie kam an den großen Bronzeplatten vorbei, die den Eingang zum Gebäude des ZENTRALEN Zentralen Nachrichtendienstes verschlossen, – und zuletzt hatte sie die unheildrohend flackernde Lichtkuppel vor sich, unter der ES wartete.
    Vater hat gesagt, ich dürfe mich fürchten. Er hat gesagt: »Geh nur, und fürchte dich!« Und Frau Diedas hat gesagt … ich weiß nicht mehr, was sie gesagt hat, aber ich glaube, es war so gemeint: »Hasse dich nicht dafür, das zu sein, was du bist, und so zu sein, wie du bist.« Und Frau Wasdenn hat gesagt, ich solle nicht vergessen, daß sie mich liebt. Daran müsse ich immer denken. Und nicht daran, daß ich Angst habe. Oder daß ich nicht so gerissen bin, wie ES ist. Frau Wasdenn liebt mich. Das ist immerhin etwas! Es bedeutet eine ganze Menge, von jemandem wie Frau Wasdenn geliebt zu werden …
    Sie war an ihrem Ziel.
    So langsam sie auch zuletzt geschlichen war, ihre Beine hatten sie doch ans Ziel gebracht.
    Unmittelbar vor ihr ragte der Rundbau auf. Die Wände glühten in violettem Feuer. Die silberhelle Kuppel vibrierte im irren Zucken der Lichter. Wieder konnte Meg fast körperhaft spüren, wie diese Strahlen nach ihr langten, sie ergriffen, sie zogen, zerrten und stießen. ES wartete.
    Ein plötzliches Einsaugen, und sie war im Inneren des Gebäudes.
    Schlagartig wurde ihr die Luft abgepreßt. Sie rang nach Atem; sie versuchte qualvoll, in ihrem eigenen Rhythmus zu atmen und sich nicht dem gewaltsamen Pulsen unterzuordnen, das ES ihr vorgab. Meg spürte, wie das unerbittliche Pochen in ihren Körper eindrang, wie es ihr Herz und ihre Lungen zu beherrschen begann.
    Nicht aber sie selbst. Nicht Meg. Noch hatte ES sie nicht in seiner Gewalt.
    Sie blinzelte heftig gegen den Rhythmus an, bis die roten Schleier vor ihren Augen sich verzogen und sie wieder klar sehen konnte.
    Dort lag das Gehirn; dort lag ES, zuckend und pulsend, auf dem Sockel; nackt, quallig und ekelerregend.
    Und Charles Wallace kauerte daneben, noch immer mit verdrehten Augen, noch immer mit hängendem Kiefer – so, wie sie ihn verlassen hatte —, und seine Stirn zuckte in dem widerlichen Takt, den ES ihm aufzwang.
    Als Meg ihn so wiedersah, war ihr, als hätte man ihr einen Fausthieb in den Magen versetzt; denn nun mußte sie sich von neuem klar machen, daß sie zwar Charles vor sich hatte, daß es aber dennoch nicht er selbst war. Der wirkliche, der liebenswerte Charles Wallace – wo war er geblieben?
    Was ist es, das ich besitze, und das ES nicht hat?
    »Nichts dergleichen besitzt du«, ging Charles Wallace mit eisiger Kälte auf ihre Gedanken ein. »Wie nett, daß du wieder da bist, geliebte Schwester. Wir haben dich erwartet. Wir wußten, daß Frau Wasdenn dich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher