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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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erinnert. Der war auf so ein Gestell aufgeschraubt.«
    »Ein Gestell?«
    »Eines dieser vierbeinigen hohen Holzdinger, auf die man Hängepflanzen stellt.«
    »Komisch.«
    »Wie alles.«
    Der Neuenburgersee lag dunkelgrau zu Füßen der Weinberge. Da und dort spiegelte er die Lichter kleiner Dörfer.
    Seit einer halben Stunde waren sie auf dem Rückweg. Ihre Suche nach dem Bäumchen war erfolglos verlaufen. Und von Wertinger hatten sie keine Nachricht. Sie hatten vergeblich versucht, ihn zu erreichen, und auch Angela hatte nichts von ihm gehört.
    Mitten in das resignierte Schweigen hinein sagte Betrio: »Nehmen wir einmal an, es funktioniert. Knupp hat alle Veränderungen der letzten einundzwanzig Jahre rückgängig gemacht und befindet sich wieder am elften Oktober einundneunzig. Und er macht irgendetwas anders. Sagen wir, er kauft all das Gerümpel nicht, das jetzt bei mir lagert – wo ist es dann? Ich meine: ab übermorgen?«
    Er gab ihm die Antwort, die er auch sich selbst schon gegeben hatte: »Niemand kann es sich vorstellen, weil es nicht vorgesehen ist. Unser Vorstellungsvermögen ist nicht darauf eingerichtet.«
    Talers Handy klingelte. Es war Wertinger. »Bingo!«, sagte er.
    Die Nachricht wirkte wie ein Aufputschmittel. Betrio trat aufs Gas, und Talers Apathie war verflogen. Wenn nichts mehr dazwischenkam, würden sie noch rechtzeitig zurück sein.
    Fünfzig Kilometer vor der Stadtgrenze rief Angela an und meldete Wertingers Ankunft und den Beginn der Einpassungsarbeit.
    »Wenn es jetzt doch klappen sollte«, scherzte Betrio, »was mach ich dann mit all dem Ramsch, der bei mir lagert? Elektrische Rasenmäher, Sonnenschirm, Kleider, Trophäen, Pfannen, Küchengeräte, Zeitschriften, Knarre, Zimmerpflanzen. Oder ist das übermorgen einfach nicht mehr dort?«
    »Knarre?«
    Es war nach zehn, als sie die Stadt erreichten. Taler beharrte auf einem Umweg über die Set Factory.
    Die »Knarre« war ein Kleinkalibergewehr mit Zielfernrohr und aufgeschraubtem Mündungsfeuerdämpfer. Wie Ronnie erklärte. Er hatte in seiner Zeit in England ein wenig gejagt.
    Das Blumengestell war etwa eins fünfzig hoch und hatte die gleichen drei Bohrlöcher und den gleichen kreisrunden Abdruck wie die Werkbank.
    Der Gewehrschaft aus hellem Schichtholz wies auf beiden Seiten mehrere Abdrücke auf. Sie waren wie gefächert, als wäre er in immer wieder anderen Winkeln zwischen die Backen eines Schraubstocks eingespannt worden.
    Ronnie Betrio fuhr Taler durch den spärlichen Abendverkehr zum Gustav-Rautner-Weg zurück. Schon von weitem sahen sie die Flutlichter in Knupps Garten.
    Angela, Wertinger und zwei Gärtner waren noch immer dabei, den Zwergahorn einzupassen. Betrio machte einen letzten Kontrollgang und verabschiedete sich. Taler half, das Bäumchen in die Position von vor einundzwanzig Jahren zu bringen. Die Zeit lief, und sie wurden mit jeder Minute nervöser.
    Als es endlich stand und Wertinger mit routinierten Schnitten zwei überflüssige Äste knapp am Stamm gekappt hatte, war es fast zwanzig vor zwölf.
    Während Wertinger die Erde festtrat und mit Rasenteppich abdeckte, räumten Angela und die Gärtner Messband, Fluchtstäbe, Stativ und Kamera weg. Sie löschten das Flutlicht und trugen die Leuchten davon.
    Taler eilte in seine Wohnung. Als er zurückkam, waren die Gärtner gegangen. Angela kam gerade aus dem Haus und erwartete ihn auf dem Gartenweg.
    »Alles Gute.« Sie gab ihm die Hand, zögerte und küsste ihn auf beide Wangen. »Glaubst du jetzt daran?«
    »Ich tue als ob.«
    »Gut. Tun als ob hilft.« Sie wollte gehen, aber er hielt ihre Hand noch fest.
    »Nicht wahr: Den Tipp hast du von Louise Neuschmid bekommen, vom Buchantiquariat Librorum?«
    Sie sah mit schräggelegtem Kopf zu ihm hoch. »Geh zu ihm, es bleibt nicht mehr viel Zeit.«
    Knupp saß in seinem Sessel, die Zeitung mit Roy Blacks Nachruf auf den Knien. Seine alte Leica lag auf dem Clubtischchen. Das neue digitale Gehäuse hatte er Angela geschenkt. Er brauche es nicht mehr, hatte er gesagt.
    Seine Hände hatte er neben sich zwischen Oberschenkeln und Armlehnen eingeklemmt, um sie am Zittern zu hindern. Die Coiffeuse hatte ihren Termin eingehalten, er war frisch rasiert, sein schwarzes Bärtchen sah aus wie gemalt.
    Taler sah auf den renovierten alten Mann hinunter und fühlte nichts. Er sagte: »Ein Gewehr kann man auch mit zitternden Händen in einen Schraubstock klemmen.«
    Knupp sah verwundert zu ihm auf.
    »Du hattest Zeit zum Üben. Wochenlang.
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