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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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sie zurückhalten konnten.
    Alle starrten auf den geschändeten Ahorn.
    Da ertönte in der Stille plötzlich die Stimme von Sophie Schalbert: »Du bleibst da! Du gehst nicht zu ihr!«
    Als Taler ins Wohnzimmer zurückkam, saß Knupp weinend am Boden. Angela kniete neben ihm. »Ich hätte nicht auf diesen Brief reagieren dürfen. Ich hätte sie nicht ins Haus lassen dürfen. Ich hätte es ihr nicht erzählen dürfen«, schluchzte der alte Mann. »Sie hätte es nie erfahren dürfen.«
    Angela sah Taler fragend an. Auch sie hatte Tränen in den Augen.
    »Versuchen kann ich’s ja«, sagte er. »Aber macht euch keine großen Hoffnungen.«
    Dafür, dass Betrios Landrover keine hundertzwanzig fuhr, war er sehr laut. Sie hatten sich für ihn entschieden, weil er groß genug war für den Zwergahorn, falls sie einen finden sollten.
    Wertinger hatte ihnen eine Liste von Gärtnereien und Baumschulen im Westen des Landes mitgegeben. Er selbst war mit einem seiner Gärtner im Osten unterwegs. In der eigenen Baumschule brauche er gar nicht erst zu suchen, hatte er erklärt, dort gebe es nichts Ähnliches.
    Sie hatten die Autobahn verlassen und fuhren auf der Landstraße durch den sonnigen Frühherbst. Taler hatte Betrios Versuche, ein Gespräch anzuknüpfen, immer wieder mit seiner Wortkargheit zunichtegemacht. Er befand sich in der Apathie, die einen befällt, wenn man kurz vor dem Ziel merkt, dass man es nicht erreichen wird. Er tat zwar so, als kämpfe er weiter, aber im Grunde hatte er aufgegeben und war in Gedanken bereits dabei, sich mit der Niederlage abzufinden.
    Draußen zogen die Ortschaften vorbei. Gesichtslose Zusammenwürfelungen aus Bauerndörfern, Industriesiedlungen und Schlafgemeinden. Sie hatten schon bei zwei Gärtnereien haltgemacht. Keine hatte einen Zwergahorn anzubieten, wie sie ihn suchten.
    Ronnie Betrio nahm einen neuen Anlauf: »Meine Leute haben natürlich längst gemerkt, dass es nicht um einen Film geht.« Er schloss sein Schiebefenster, um den Lärm des Fahrtwindes auszusperren.
    Taler ließ sein Fenster offen. »Und? Was sagen Sie ihnen?«
    »Die Wahrheit. Beziehungsweise das, was Sie mir als Wahrheit verkauft haben: Er wolle die Illusion haben, einen ganz bestimmten Tag noch einmal zu erleben.«
    Jetzt schob auch Taler sein Fenster zu. »Es ist fast die Wahrheit. Nur ›die Illusion haben‹ stimmt nicht. Knupp will den Tag tatsächlich noch einmal erleben.«
    Betrio sah so lange zu Taler hinüber, dass er über die Sicherheitslinie fuhr. Erst beim Hupen eines entgegenkommenden Fahrzeugs griff er ins Lenkrad und brachte den Wagen auf die Fahrspur zurück.
    »Knupp will eine Zeitreise machen?«
    »Nein«, antwortete Taler. »Er glaubt nicht an die Zeit.«
    Betrio lachte auf. »Er glaubt nicht an die Zeit ?«
    »Er glaubt nur an die Veränderung. Sie allein mache uns glauben, es gebe eine sogenannte Zeit.«
    »Sogenannte?«
    Betrio hielt auf dem Parkplatz eines Gartencenters. Sie irrten durch ein Labyrinth aus Kompost-, Humus- und Düngersäcken, vorbei an Pfosten, Gitterzaunrollen und Eternitkästen, bis zu einem mit Efeu bekränzten Torbogen mit dem Schild »Willkommen im Baumparadies«.
    Ganze drei Zwergahorne standen da, alle nur halb so groß wie der gesuchte. »Kommen Sie im März wieder«, riet ihnen eine Mitarbeiterin in einer Gärtnerschürze mit der Aufschrift »Fragen kostet nichts«.
    Als sie wieder im Auto saßen, sagte Betrio: »Wir waren bei der sogenannten Zeit.«
    Widerstrebend nahm Taler das Thema wieder auf. »Das, was wir als das Verstreichen von Zeit empfinden, ist in Wirklichkeit nur die Entstehung von Veränderung. Wenn wir diese verhindern, verstreicht auch keine Zeit.«
    Ronnie dachte nach. »Weiter.«
    »Und wenn wir die Veränderung rückgängig machen, ist auch keine Zeit verstrichen.«
    Betrio schüttelte ungläubig den Kopf. »Und Sie, oder darf ich du sagen? Und du? You’re in for the money, wie ich?«
    »Nein«, antwortete Taler, »nicht fürs Geld.«
    »Sag bloß, du glaubst da auch dran.«
    Die Scheinwerfer ließen schon die Reflektoren an den Straßenpfosten aufleuchten. Peter Taler sah das dunkle Band der Böschung vorbeiziehen. Als Betrio schon gar nicht mehr mit einer Antwort rechnete, murmelte er: »Ich hab’s versucht.«
    Sie schwiegen wieder, bis Taler fragte: »Wo hast du eigentlich so schnell einen passenden Drehteller aufgetrieben für den alten Schraubstock?«
    »Der war bei mir im Zwischenlager, bei Knupps Sachen. Einer meiner Leute hat sich daran
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