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Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Die Zeit, die Zeit (German Edition)

Titel: Die Zeit, die Zeit (German Edition)
Autoren: Martin Suter
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Monatelang. Jedes Mal, wenn Laura an der Tür stand, konntest du ein bisschen korrigieren. Und dann, an dem Tag, als sie den Schlüssel vergessen hatte, hattest du genügend Zeit für den Schuss.«
    Knupp wandte den Blick ab.
    »Sieh mich an!«
    Der Alte gehorchte.
    »Es stimmt nicht, dass du mit Laura gesprochen hast. Sie hat sich auch nicht für die Kerbeler-Theorie interessiert. Es gab keine Gartenzaunbekanntschaft zwischen euch. Sie war auch nicht kurz vor Weihnachten im Antiquariat. Sie hat auch das Buch nicht bestellt. Es ist dein Buch, ich habe deine Schrift erkannt, obwohl sie damals, als du die Anmerkungen machtest, noch nicht so zittrig war. Louise Neuschmid ist deine Komplizin.«
    Knupp schüttelte den Kopf. »Louise ist keine Komplizin. Sie ist eine Freundin. Sie war es, die mir die Augen über die Zeit geöffnet hat. Nein, sie ist nicht die Komplizin. Louise ist die Vordenkerin dieses gewaltigen Experiments.« Das Werk der Pendeluhr machte ein rasselndes Geräusch, als würde es Anlauf nehmen. Dann schlug es zwölf. Die beiden Männer zählten die Schläge. Nach dem letzten sagte Knupp: »Geh jetzt. Schnell. Du musst gehen, sonst stimmt etwas nicht.«
    Taler ignorierte ihn. »Alles diente nur dazu, mich so weit zu bringen, dass ich euch bei eurem großen Experiment helfe.«
    »Du musst gehen. Bitte geh.«
    »Das habe ich alles verstanden. Aber sag mir: Warum musste Laura sterben?«
    Knupp wandte wieder den Blick ab.
    »Sag es mir ins Gesicht!«
    Der alte Mann sah ihm in die Augen. »Ich wusste, dass der Tag kommen würde, an dem ich Hilfe brauche.«
    »Und?«
    »Nur von jemandem in der gleichen Situation konnte ich sie erwarten.«
    Peter Taler brauchte einen Moment, um die ganze Ungeheuerlichkeit dieses Satzes zu begreifen. »Deshalb hast du einfach eine junge Frau erschossen?«, brachte er schließlich heraus.
    Er griff in die Tasche seiner Sportjacke, zog die Pistole heraus, entsicherte sie und richtete sie auf Knupps Kopf.
    »Nein, hör auf. Versteh doch: Ich habe sie nur erschossen, weil ich sicher war, dass ich sie nicht erschossen haben werde.«
    Der Knall war lauter, als Taler erwartet hatte. Knupps Kopf machte eine ruckartige Bewegung und verharrte dann, gegen das Polster gelehnt. Auf der Stirn war ein kleines rundes Loch zu sehen.
    Taler verließ das Haus. Eine dünne Mondsichel hing am Himmel. Er ging durch den Garten von damals, über die Straße von damals, vorbei an den Autos von damals in seine Wohnung von heute.
    Er legte die Pistole auf den Esstisch. An diesem Abend stellte er sich nicht ans Blumenfenster und sah auch nicht länger hinunter auf den stillen, traurigen elften Oktober neunzehnhunderteinundneunzig.
    Der Hass war weg. Er fühlte sich befreit. Als hätte er etwas immer wieder Aufgeschobenes endlich erledigt.
    Er öffnete eine Flasche Bier, setzte sich aufs Sofa und trank sie leer. Danach öffnete er eine zweite. Nach der dritten ging er zum Wein über. Auf seiner Armbanduhr war es vier, als er schließlich einnickte.

22
     
    »Oh! Sie sind ja noch hier?«
    Frau Gelphart stand in ihrer Arbeitsschürze neben dem Sofa.
    »Wie spät ist es?«
    »Halb zehn.«
    Taler setzte sich auf. Sein Schädel pochte, seine Augen brannten, und sein Magen wollte sich drehen. Er versuchte, sich zurechtzufinden.
    »Ist Ihnen nicht gut?« Frau Gelpharts Frage klang eher vorwurfsvoll als besorgt.
    Jetzt ploppten die Erinnerungen hoch. Eine nach der anderen. Er stand vom Sofa auf und ging zum Blumenfenster.
    Das breite Holzsims war leer und voller alter Wasserflecken von den Zimmerpflanzen der Vormieter.
    Er sah hinaus. Etwas war anders.
    Der Garten der Familie Hadlauber reichte bis zum Gartenzaun der Scholters. Dort, wo Knupps Haus gestanden hatte, glitzerte türkisblau ein überdimensionierter Pool in der Vormittagssonne.
    »Frau Gelphart!«, rief er, »Frau Gelphart!«
    »Was ist?« Sie kam erschrocken zu ihm.
    »Das Haus! Dort drüben! Da stand doch gestern noch ein Haus!«
    Sie sah ihn besorgt an. »Gestern? Aber das ist doch zwanzig Jahre her!«
    »Das Haus von Knupp, nicht wahr?«
    »Die armen Knupps. Flogen nach Nepal in die Ferien. Beim Anflug auf Katmandu verunglückte die Maschine. Hundertdreizehn Passagiere. Alle tot. Das war neunzehnhundertzweiundneunzig. – Ist Ihnen nicht gut? Sie sind ja schneeweiß.«
    Hinter Frau Gelphart ging die Tür zum Atelier auf, und aus dem halbdunklen Raum trat – Laura.
    Sie war zum Ausgehen gekleidet und schien es eilig zu haben.
    »Sag mal, hast du
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