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Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman

Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman

Titel: Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Autoren: Sabine Klewe
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haben.«
    »Wir haben die Feuerwehr angefordert«, ergänzte der andere Kollege. »Und einen Verhandlungsspezialisten. Aber es kann noch etwas dauern. Wegen des Schnees sind alle Kräfte im Einsatz.«
    »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, stieß Salomon hervor. »Das hier hat ja wohl eindeutig Vorrang.«
    »Wir haben keine Zeit zu warten«, sagte Lydia und stapfte auf den Mast zu. Sie drehte sich zu Salomon um. »Lass die Bruckmanns herbringen.«
    Er folgte ihr.
    »Und wenn es doch Leonie ist?«, fragte er leise.
    »Risiko«, raunte sie ihm zu. »Oder hast du eine bessere Idee?« Sie blickte abschätzend nach oben. Das Mädchen hockte mindestens fünf Meter über ihr, die kleine Gestalt war nichts weiter als ein grauer Fleck zwischen den Verstrebungen des Mastes.
    »Komm bloß nicht auf dumme Gedanken!«, sagte Salomon. »Das ist gefährlich. Die Streben sind bestimmt saukalt und glatt. Wir sollten besser auf die Feuerwehr warten.«
    Lydia rieb sich die Hände.
    »Mach den Kollegen Beine«, sagte sie und griff nach der ersten Strebe.
    Das Metall war eisig, und sie verfluchte sich, weil sie nicht daran gedacht hatte, Handschuhe einzustecken. Doch sie biss die Zähne zusammen und zog sich hoch.
    »Lydia!«, rief Salomon hinter ihr. Er klang ernsthaft besorgt. »Mach keinen Scheiß!«
    »Zu spät«, erwiderte sie keuchend. »Und für dich immer noch Louis.«
    Sie suchte mit den Füßen nach Halt und erklomm die nächste Strebe. Langsam, aber sicher kletterte sie nach oben. Das Metall war so bitterkalt, dass sie glaubte, ihre Finger würden daran festfrieren, ihr Atem, der immer schneller ging, schnitt ihr messerscharf in die Kehle. Unter sich hörte sie, wie Salomon erst anordnete, Nicole und Michael Bruckmann herbringen zu lassen, und dann der Feuerwehr Dampf machte.
    »Wir brauchen eine Drehleiter«, rief er. »Sofort! Ein Kind ist in Lebensgefahr. Und eine Kollegin!«
    Als Lydia das Gefühl hatte, schon endlos weit hinaufgeklettert zu sein, blickte sie zum ersten Mal nach unten. Die Kollegen waren immer noch ziemlich nah, höchstens drei Meter unter ihr. Sie schaute hoch. Das Mädchen schien nach wie vor unerreichbar weit oben.
    »Bleib weg!«, rief sie plötzlich.
    »Keine Sorge, ich tu dir nichts«, keuchte Lydia. »Ich möchte nur mit dir reden. Willst du mir nicht ein Stück entgegenkommen, damit ich nicht so schreien muss?«
    Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Kann nicht.«
    Das hatte Lydia befürchtet. Der Aufstieg war immer leichter als der Abstieg. Vermutlich konnte die Kleine weder vor noch zurück. Sie biss die Zähne zusammen und umfasste die Strebe über ihr. Sie hatte kaum noch Gefühl in den Fingern, doch sie kletterte verbissen weiter. Als sie nur noch ein kleines Stück von dem Mädchen entfernt war, hielt sie erneut inne.
    »Mehr schaffe ich nicht«, murmelte sie atemlos. »Ich glaube, mir fallen gleich die Finger ab.«
    »Du musst deine Arme um die Stange legen«, sagte das Mädchen. »So wie ich.«
    Lydia folgte ihrem Beispiel. Es funktionierte tatsächlich. »Du bist ganz schön sportlich, Toni.«
    Das Mädchen antwortete nicht.
    »Du bist doch Toni?«
    »Ich wollte das alles nicht.«
    »Ich weiß. Es war ein Unfall.« Lydia veränderte ihre Position, sodass ihr linkes Bein nicht mehr so verdreht war, dann blickte sie wieder nach oben. »Deine Eltern sind auf dem Weg hierher. Sie sind sehr glücklich, dass du unversehrt bist.«
    »Sie sind bestimmt furchtbar böse auf mich.«
    »Sie lieben dich.«
    »Er wollte, dass ich mit ihm vor den Zug springe, aber ich habe mich losgerissen. Ich habe gesagt: ›Ich bin nicht Leonie! Ich bin Toni!‹ Aber er hat mich trotzdem Leonie genannt. Er war so wütend, ich hatte furchtbare Angst.«
    »Er kann dir nichts mehr tun.«
    Toni schwieg.
    »Sollen wir nicht versuchen runterzuklettern? In dem Polizeiauto ist es trocken und warm.«
    Toni blickte nach unten. »Ich kann nicht.«
    »Verstehe. Schaffst du es denn, dich noch ein bisschen festzuhalten? Gleich kommt die Feuerwehr mit einer großen Leiter.«
    Sie nickte. »Es tut so weh.«
    »Was tut weh?«
    »Mein Arm. Er hat ihn mir verdreht.«
    Lydia seufzte. Sie hauchte ihre Finger an, dann machte sie sich daran, das letzte Stück auch noch hinaufzuklettern. Sie erreichte das Mädchen und legte ihren Arm um seinen mageren kalten Körper.
    »Ich will zu meiner Mami«, sagte Toni leise. Sie hatte glasige Augen und dunkelblaue Lippen.
    »Sie ist gleich hier.«
    »Ich gehe nie mehr in dieses schreckliche
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