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Die Weiße Rose

Die Weiße Rose

Titel: Die Weiße Rose
Autoren: Inge Scholl
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Hause. Sie machten sich gegenseitig auf Bücher aufmerksam, lasen etwas vor, diskutierten, oder sie verfielen plötzlich in einen tollen Übermut und erfanden allen möglichen Unsinn. Phantasie, Humor und Lebenslust mußten sich einfach manchmal Luft machen.
     
    Es war am Vorabend von Sophies Abreise nach München, wenige Tage vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. »Ich kann’s kaum glauben, daß ich morgen mit dem Studium anfangen darf«, hatte sie beim Gutenachtkuß zu der Mutter gesagt, die in der Diele stand und Sophies Blusen bügelte. Auf dem Boden lag ein offener Koffer mit Kleidern und frischer Wäsche und mit all den tausend Kleinigkeiten, die Sophie für den neuen Studentenhaushalt haben mußte. Daneben eine Tasche mit einem knusprig-braunen, duftenden Kuchen. Sophie beugte sich hinunter und schnupperte daran. Dabei entdeckte sie die Flasche Wein, die daneben steckte. Lange genug hatte Sophie auf diesen Tag warten müssen.
    Eine schwere Geduldsprobe war das schon gewesen. Zuerst Arbeitsdienst, ein halbes Jahr, das kein Ende nehmen wollte. Und dann, als sie eben zum Sprung in die ersehnte Freiheit ansetzte, eine neue Schranke: noch ein weiteres halbes Jahr Kriegshilfsdienst. Sie wollte gewiß nicht sentimental sein, aber was sie da gelitten hatte … Die Arbeit hatte sie nicht gefürchtet; aber das andere, den Zwang, den Massenbetrieb im Lager, die Schablone. Und auch dies wäre noch zur Not zu ertragen gewesen, wenn nicht ihre Überzeugung sie in eine tiefe, ununterbrochene Abwehrstellung gezwungen hätte. War es nicht eine unverzeihliche Charakterlosigkeit von ihr, wenn sie auch nur einmal eine Hand für einen Staat rührte, dessen Fundamente doch Lüge, Haß und Unfreiheit waren? »Ich möchte, daß ihr gerade und frei durchs Leben geht«, hatte der Vater gesagt. Wie unsäglich schwer das sein konnte. Sophie hatte diesen Konflikt manchmal wie eine übergroße Last empfunden und war damit unter den vielen Mädchen beim Arbeitsdienst einsam geworden. So hielt sie sich ganz im Hintergrund und versuchte den Eindruck zu erwecken, als sei sie nicht da. Mochten die andern Mädchen von ihr denken, was sie wollten. Was Heimweh und Verlassenheit war, das hatte sie damals erfahren. Aber zwei Dinge hatte sie sich bewahrt von daheim, von der anderen Welt, und an denen hielt sie fest. Sie waren wie Pfähle in diesem Meer von Fremdheit und Widersinn. Das eine war das Bedürfnis – vielleicht war es ein Schutz gegen eine unappetitliche Umgebung –, ihren Körper in besonderem Maße zu pflegen. Ihr Geist aber suchte bei den Gedanken des Augustinus Halt. In diesem Lager war es sogar verboten, eigene Bücher zu haben. Ihren Augustinus-Band jedoch hielt sie an einem sicheren Platz verborgen. Es gab in jenen Jahren eine Renaissance der theologischen Literatur, die von den Kirchenvätern bis zu den Scholastikern mit Thomas von Aquin als der zentralen Figur reichte, und weiter zu kühnen Nachfolgern in der modernen französischen Philosophie und Theologie. Sie erfaßte auch Kreise, welche außerhalb der offiziellen Gläubigkeit standen. Bei Augustinus fand Sophie diesen Satz, der für sie geschrieben schien, ganz genau für sie, obwohl er schon über tausend Jahre alt war: »Du hast uns geschaffen hin zu Dir, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir.« Ach, es war ja nicht mehr das Kinderheimweh, es ging viel weiter, und Sophie empfand die Welt manchmal als einen fremden, öden, von Gott verlassenen Raum. Die Menschen hatten die Fähigkeit entwickelt, in Spezialisierung und Zusammenarbeit das feingliedrige Gebäude der Kultur aufzubauen. Und immer wieder fielen sie in den Zustand zurück, sich zu negieren und ihre Werke gegenseitig zu zerstören, schließlich nicht nur ihre Werke, sondern sich selbst.
    Sophie hatte in der Nähe des Lagers eine kleine Kapelle entdeckt. Manchmal war sie dorthin gegangen. Schön war es gewesen, an der Orgel zu sitzen und zu spielen – und dazwischen nichts zu tun als nachzudenken und in die Natur hinauszuhorchen, in der sich ihre zerrissene Welt sanft ineinanderfügte und wieder Ordnung und Sinn gewann. Jede freie Stunde hatte sie genützt, um hinauszuschlüpfen in den großen Park um das Lager, der überall in Wald und Wiese überging. Ganz still hatte sie dagelegen, selbst ein kleines Stück Natur. Wie schön war der Umriß einer Tanne, in welcher Gelassenheit lebte solch ein Baum dahin. Wie schön das Moos an seinem Stamm, das so selbstverständlich von seinen Kräften
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