Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Weiße Rose

Die Weiße Rose

Titel: Die Weiße Rose
Autoren: Inge Scholl
Vom Netzwerk:
zehrte. Das Leben, wie groß war es und unfaßlich. Sophie fühlte, daß ihre Haut fein und porös geworden war, als könne sie es einatmen, das wunderbare, schöne Dasein der Dinge. Doch dann brach der Konflikt wieder in ihrem Herzen auf und zog die ganze Welt hinein in seine Traurigkeit.
    Jetzt aber war sie frei. Und morgen wollte sie nach München fahren, ihr Leben selbst formen, an die Universität, zu Hans …
    Die Mutter stand immer noch in der Diele und bügelte. Sorgfältig fuhr sie mit dem Eisen über Sophies Bluse. Nun war sie also auch so weit, ihr kleiner, eigenwilliger Wisch. Was wohl aus ihr werden würde? Eine Welle von Hoffnung rann durch das Herz der Mutter. Ach, sie würde ihre Sache schaffen, wohin sie auch gestellt würde, ihr glückte doch alles, was sie in die Hände nahm. Die Gedanken der Mutter wanderten weiter, von einem Kind zum andern. Sie blieben am Jüngsten haften. Der war in Rußland. Was er wohl jetzt im Augenblick tat? Wenn nur der Krieg erst zu Ende wäre und sie alle wieder um den Tisch versammelt wären. Sie kniete am Boden und machte den Koffer zu. »Sie sind in Gottes Hand«, sagte sie und fing an aufzuräumen. Dazu sang sie leise, und plötzlich merkte sie, daß es das alte Lied war, mit dem sie oft ihre Kinder in den Schlaf gesungen hatte. »Breit aus die Flügel beide …«
    Unsere Mutter gehörte nicht zu der Art von mütterlichen Wesen, die ständig in Angst und Sorge um die ihr Anvertrauten verharrten. Im Gegenteil, sie hielt sich zurück mit Ermahnungen, wenn Hans und Werner zu ihren abenteuerlichen Fahrten aufbrachen. Einmal, als sie heimkehrten, sagte sie heimlich zu mir: »Ihr ahnt ja nicht, welche Angst ich jedesmal ausstehe. Eher würde ich mir jedoch auf die Zunge beißen, als ihnen durch mein Jammern den Spaß verderben.«
    Aber jetzt wurde Mutters friedliches Herz manchmal von einer großen, fremden Sorge zermartert. Vor einiger Zeit nämlich hatte es zu ungewöhnlicher Morgenstunde geklingelt, und drei Männer von der Geheimen Staatspolizei hatten Vater zu sprechen gewünscht. Zuerst hatte es zwischen ihnen eine längere Unterredung gegeben, danach eine Durchsuchung der Wohnung, dann waren sie gegangen und hatten Vater mitgenommen. An diesem Tag spürten wir bis ins Mark, daß wir entsetzlich ohnmächtig waren. Was war denn ein Mensch in diesem Staat? Ein bißchen Staub, das man mit der Fingerspitze wegtupfte. Nur durch einen besonders glücklichen Umstand wurde Vater wieder aus dem Gefängnis entlassen. Aber es wurde ihm bedeutet, daß der ›Fall‹ noch nicht erledigt sei. Mein Vater war durch eine Angestellte angezeigt worden, der er unvorsichtigerweise seine eigene Meinung über Hitler gesagt hatte. Er hatte ihn vor ihren Ohren eine Gottesgeißel der Menschheit genannt.
    Was wird nun weiter werden? Manchmal waren wir voller Hoffnung, daß sich doch alles noch zum Guten wenden werde. Doch immer wieder kroch dieses eisige, quälende Gefühl in unseren Herzen empor, daß eine furchtbare Pranke über uns war, die jede Minute niederfallen konnte; und niemand wußte, wer das nächste Opfer war.
    »Dies Kind soll unverletzet sein«, sang die Mutter beharrlich ihr Lied zu Ende. Heute verdrängten Sophies Freude und die vielerlei Vorbereitungen für ihre Abreise die Sorge aus ihrem Herzen.
     
    Ich sehe sie noch vor mir, meine Schwester, wie sie am nächsten Morgen dastand, reisefertig und voll Erwartung. Eine gelbe Margerite aus Mutters Garten steckte an ihrer Schläfe, und es sah schön aus, wie ihr so die dunkelbraunen Haare glatt und glänzend auf die Schultern fielen. Aus ihren großen, dunklen Augen sah sie sich die Welt an, prüfend und mit einer lebhaften Teilnahme. Ihr Gesicht war noch sehr kindlich und zart. Ein wenig von der schnuppernden Neugier eines jungen Tieres war darin und ein großer Ernst. Als Sophie endlich in die Bahnhofshalle Münchens einfuhr, sah sie schon von weitem das fröhliche Gesicht ihres Bruders. Wie da in einem Nu alles vertraut war! »Heute abend wirst du meine Freunde kennenlernen«, sagte Hans. Er ging groß und sicher neben ihr her.
    Am Abend trafen sich alle in Hans’ Zimmer. Neben Sophie war der gefeierte Mittelpunkt ihr Geburtstagskuchen, in jenen Jahren eine Rarität. Jemand kam auf die Idee, Gedichte vorzulesen, und die andern mußten raten, von welchem Dichter sie seien. Alle waren gefesselt von diesem Spiel. »Nun aber werde ich euch noch ein ganz schweres Rätsel aufgeben«, rief Hans enthusiastisch. Er kramte aus
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher