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Die Weiße Rose

Die Weiße Rose

Titel: Die Weiße Rose
Autoren: Inge Scholl
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wie du und ich in einer menschlichen Welt leben können. Und vielleicht liegt darin das Große, daß sie für etwas so Einfaches eintraten und ihr Leben dafür aufs Spiel setzten, daß sie die Kraft hatten, das einfachste Recht mit einer letzten Hingabe zu verteidigen. Vielleicht ist es schwerer, ohne allgemeine Begeisterung, ohne große Ideale, ohne hohe Ziele, ohne deckende Organisationen und ohne Verpflichtung für eine gute Sache einzustehen, und allein und einsam sein Leben für sie einzusetzen. Vielleicht liegt darin das wirkliche Heldentum, beharrlich gerade das Alltägliche, Kleine und Naheliegende zu verteidigen, nachdem allzuviel von großen Dingen geredet worden ist.
     
    Das beschauliche Städtchen im Kochertal, in dem wir unsere Kindertage verbrachten, schien von der großen Welt vergessen. Die einzige Verbindung mit dieser Welt war eine gelbe Postkutsche, die die Bewohner in langer, rumpelnder Fahrt zur Bahnstation brachte. Mein Vater jedoch, der dort Bürgermeister war, sah mit großem Kummer die Nachteile dieser Weltabgeschiedenheit und setzte es schließlich in zähem Kampf gegen manchen Bauernschädel durch, daß endlich eine Eisenbahn gebaut wurde.
    Uns aber erschien die Welt dieses Städtchens nicht klein, sondern weit und groß und herrlich. Wir hatten auch bald begriffen, daß sie am Horizont, wo die Sonne auf- und unterging, noch lange nicht zu Ende war.
    Aber eines Tages rollten wir auf den Rädern unserer geliebten Eisenbahn mit Sack und Pack davon, weit fort über die Schwäbische Alb. Ein großer Sprung war getan, als wir in Ulm, der Stadt an der Donau, die nun unsere neue Heimat werden sollte, ausstiegen. Ulm – das hörte sich an wie der Klang der größten Glocke vom gewaltigen Münster. Zuerst hatten wir großes Heimweh. Doch viel Neues zog bald unsere Aufmerksamkeit auf sich, besonders die Höhere Schule, in die wir fünf Geschwister eines nach dem andern eintraten.
     
    An einem Morgen hörte ich auf der Schultreppe eine Klassenkameradin zur andern sagen: »Jetzt ist Hitler an die Regierung gekommen.« Und das Radio und alle Zeitungen verkündeten: »Nun wird alles besser werden in Deutschland. Hitler hat das Ruder ergriffen.«
    Zum erstenmal trat die Politik in unser Leben. Hans war damals 15  Jahre alt, Sophie 12 . Wir hörten viel vom Vaterland reden, von Kameradschaft, Volksgemeinschaft und Heimatliebe. Das imponierte uns, und wir horchten begeistert auf, wenn wir in der Schule oder auf der Straße davon sprechen hörten. Denn unsere Heimat liebten wir sehr, die Wälder, den Fluß und die alten, grauen Steinriegel, die sich zwischen den Obstwiesen und Weinbergen an den steilen Hängen emporzogen. Wir hatten den Geruch von Moos, von feuchter Erde und duftenden Äpfeln im Sinn, wenn wir an unsere Heimat dachten. Und jeder Fußbreit war uns dort vertraut und lieb. Das Vaterland, was war es anderes als die größere Heimat all derer, die die gleiche Sprache sprachen und zum selben Volke gehörten. Wir liebten es und konnten kaum sagen, warum. Man hatte bisher ja auch nie viele Worte darüber gemacht. Aber jetzt, jetzt wurde es groß und leuchtend an den Himmel geschrieben. Und Hitler, so hörten wir überall, Hitler wolle diesem Vaterland zu Größe, Glück und Wohlstand verhelfen; er wolle sorgen, daß jeder Arbeit und Brot habe; nicht ruhen und rasten wolle er, bis jeder einzelne Deutsche ein unabhängiger, freier und glücklicher Mensch in seinem Vaterland sei. Wir fanden das gut, und was immer wir dazu beitragen konnten, wollten wir tun. Aber noch etwas anderes kam dazu, was uns mit geheimnisvoller Macht anzog und mitriß. Es waren die kompakten Kolonnen der Jugend mit ihren wehenden Fahnen, den vorwärtsgerichteten Augen und dem Trommelschlag und Gesang. War das nicht etwas Überwältigendes, diese Gemeinschaft? So war es kein Wunder, daß wir alle, Hans und Sophie und wir anderen, uns in die Hitlerjugend einreihten.
    Wir waren mit Leib und Seele dabei, und wir konnten es nicht verstehen, daß unser Vater nicht glücklich und stolz ja dazu sagte. Im Gegenteil, er war sehr unwillig darüber, und zuweilen sagte er: »Glaubt ihnen nicht, sie sind Wölfe und Bärentreiber, und sie mißbrauchen das deutsche Volk schrecklich.« Und manchmal verglich er Hitler mit dem Rattenfänger von Hameln, der die Kinder mit seiner Flöte ins Verderben gelockt hatte. Aber Vaters Worte waren in den Wind gesprochen, und sein Versuch, uns zurückzuhalten, scheiterte an unserer Begeisterung.
    Wir
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