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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt
Autoren: Leif Davidsen
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herauszufinden, was mit Irinas Leiche passiert war. Vielleicht hat man sie einfachin eines jener Massengräber geworfen, von denen im ehemaligen sowjetischen Reich immer wieder neue entdeckt werden. Die von mir eingesetzten Ermittler wurden in den Archiven jedenfalls nicht fündig.
    Vielleicht ist es besser so. Ich kann nämlich ein ziemlich sentimentaler Narr sein. Und vielleicht hätte ich erwogen, meinem Leben in Moskau ein Ende zu machen, um mich an ihrer Seite bestatten zu lassen.
    Mitte der neunziger Jahre suchte ich das vornehme Gebäude am Fluss noch einmal auf. An der Mauer hatte man inzwischen Gedenktafeln mit den Namen und Gesichtern der berühmten Personen angebracht, die dort gewohnt hatten. Fast alle waren zwischen 1937 und 1939 weggezogen.
    Gegenüber dem Gebäude wurde gerade eine neue Erlöser-Kathedrale errichtet, die diejenige ersetzen sollte, die man unter Stalin in die Luft gesprengt hatte, und ich musste an Irinas Großmutter denken. Sie hatte recht behalten. Stalins neuer Oberster Sowjet wurde niemals fertiggestellt. Es hatte ein böser Fluch auf ihm gelegen. Stattdessen hatte sich an der Stelle, an der das große Symbol der Sowjetmacht eigentlich hätte stehen sollen, viele Jahre lang ein riesiges Freibad befunden, aber jetzt erhob sich dort wieder eine Kirche.
    Ich konnte sie von der Wohnung aus sehen.
    In der Wohnung waren natürlich keine Spuren des dramatischen und blutigen Abends mehr zu finden. Ein bekannter sowjetischer Komponist hatte dort als Staatskünstler viele Jahre lang gelebt, aber inzwischen war die gesamte Anlage in Eigentumswohnungen der Luxusklasse umgewandelt worden. Der neue Besitzer der Wohnung war ein kettenrauchender junger Mann, der über nichts anderes als Geld reden konnte. Er hatte sich die Wohnung gekauft, weil sie so unglaublich schick und so begehrt und so teuer war und weil sie genau zu seinem Lebensstil passte.Er hatte sie mit einer geschmacklosen Mischung aus teuren skandinavischen Möbeln und nachgemachtem französischem Rokoko in den Wohnräumen eingerichtet, in den Badezimmern gab es goldene Wasserhähne, an den Wänden hing moderne Kunst neben russischem Kitsch.
    Er war ein neureicher Emporkömmling, der dort mit einer mageren Blondine mit langen Beinen und großen Brüsten zusammenwohnte. Die Frau rauchte eine schmale Filterzigarette nach der anderen, während sie sich einen amerikanischen Videofilm ansah.
    Er hatte mich empfangen, weil er mein Unternehmen und meinen guten Ruf kannte. Ich bat meinen russischen Dolmetscher, ihm einfach nur zu sagen, dass ich mir gern einmal eine der Wohnungen in dem Gebäude ansehen wolle, das in den dreißiger Jahren berühmt gewesen sei, und dass es wegen eines Romans sei.
    Ich stand in dem Zimmer, in dem ich zwei Menschen getötet hatte. Am liebsten hätte ich noch zwei weitere umgebracht. Ich war kurz davor, den Kommunismus zu vermissen. Ich ließ sie in ihrem schlechten Englisch daherreden und dachte an Irinas Familie.
    Denn was mit ihrem Bruder und ihrem Vater passiert ist, weiß ich.
    Sie wurden in das Arbeitslager am Kolyma-Fluss gebracht, in das Land des weißen Todes. Irinas Vater starb am ersten Weihnachtstag 1942. Es herrschten Temperaturen von mehr als vierzig Grad minus, und er kehrte von seiner Arbeit als Baumfäller nicht mehr zurück. Auch an den Weihnachtsfeiertagen war ein Arbeitspensum von sechzehn Stunden zu erfüllen. Irinas Bruder hielt bis zum 18. Mai 1946 durch, dann starb er an Tuberkulose. Das NKWD verfügte über eine tadellose Buchführung. Ihr Urteil war in den Dokumenten, die ich einsehen durfte, ebenso vermerkt wie Todestag und Todesursache. Der letzte Akteneintrag aus dem Jahr 1957, also nur vier Jahrenach Stalins Tod, dokumentiert ihre Rehabilitierung. Darin wird festgehalten, dass sie ab sofort wieder als Bürger in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken aufgenommen sind und dass ihre Kinder nicht länger als Nachkommen von Staatsfeinden anzusehen sind. Sie verfügen über alle Rechte als Bürger der Sowjetunion.
    Ich spürte ihre Gräber auf und bezahlte dafür, dass man dort schöne Grabsteine errichtete und fortan dafür sorgte, dass ihre Grabstätte gepflegt und dort zu Ostern nach russischer Sitte ein Wodka getrunken wurde. Dabei goss man für den Verstorbenen einen Wodka auf das Grab. Weder Irina noch ihr Bruder hatten Kinder. Die Familie ist mit ihnen ausgestorben.
    Svend nahm auf seine Weise Rache. Er verfügte noch immer über wichtige Kontakte und berichtete
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