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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt
Autoren: Leif Davidsen
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Zeit, die Ereignisse zu rekapitulieren.
    Die transsibirische Eisenbahn brachte uns in Sicherheit. Wir reisten Tausende von Kilometern durch das vollkommen vereiste Land, während andere Menschen in geschlossenen Viehwagen unterwegs waren, und zwar dorthin, was die Welt viele Jahre später als GULAG kennenlernen sollte. Es ist eine merkwürdige Vorstellung, dass Irinas Vater und Bruder zusammen mit anderen Verurteilten in einem der Güterwaggons direkt vor uns oder, was wohl wahrscheinlicher war, direkt hinter uns herfuhren.
    Wir waren noch einmal davongekommen, aber in den Minuten unmittelbar nach den gewaltsamen Ereignissen in der Moskauer Wohnung fiel es mir schwer, einen Weg zu erkennen, wie wir dieser Hölle jemals entrinnen sollten.Ich war nicht mehr Herr meiner Sinne und ließ mich wie eine willenlose Puppe von Svend und Keenan abführen, der in der Wohnung aufgetaucht war und jene Führungsqualitäten an den Tag gelegt hatte, die ich später noch näher kennenlernen sollte, als wir uns während des Krieges wieder begegneten.
    Svend Poulsen war mir gefolgt, als ich das Hotel National verlassen hatte. Er hatte weder meinem Geisteszustand noch Irina über den Weg getraut. Er war von Natur aus ein misstrauischer Mensch und seit seiner Zeit in der Kommunistischen Partei verfügte er über einen sechsten Sinn, der Verrat schon aus größter Entfernung witterte.
    Er hatte den ohnehin schon angetrunkenen Pförtner noch betrunkener gemacht und ihm dann einen Schlag auf den Kopf verpasst, sodass er einfach umgekippt war. Dann hatte er ihn mit dem Kopf auf den Armen und einem umgekippten Wodkaglas neben sich in seiner Loge drapiert. Anscheinend kein ungewöhnlicher Anblick. Svend wusste, dass die Pförtner in Moskau Ersatzschlüssel für alle Wohnungen haben. So verlangte es die Feuerpolizei, selbst in einer so noblen Wohnanlage.
    Als er dann Torokul begegnet war, hatte er sich selbst verflucht. Er hätte eine Waffe mitnehmen sollen. Svend hatte uns eine Weile belauscht und versucht, herauszufinden, worum es eigentlich gerade ging. Irina hatte ihm schließlich die Entscheidung abgenommen. Indem sie auf Kawerin zugestürzt war, hatte sie Svend gezwungen, sich ebenfalls in den Kampf einzumischen.
    Als Paul Keenan eintraf, saß ich noch immer mit Irinas Kopf in meinem Schoß da. Ich weinte nicht mehr, aber ich sah wahrscheinlich genauso entsetzlich aus, wie ich mich fühlte. Keenan verlor keine Zeit mit Sentimentalitäten, sondern forderte mich auf, mich gefälligst zusammenzureißen. Ich reagierte nicht. Er verpasste mir eine kräftige Ohrfeige, und es war, als befreite er mich damitaus meiner Apathie. Ich bettete Irinas Kopf vorsichtig auf den Teppich, stand auf und zündete mir eine Zigarette an.
    »Und jetzt erzähl mir, was hier eigentlich passiert ist, aber bitte die Kurzfassung«, sagte Keenan und zündete sich ebenfalls eine seiner Zigarren an. Die Leichen schienen ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Später begriff ich, dass er schon viele Tote gesehen und als Agent ein abgeklärtes Verhältnis zum Töten anderer Menschen hatte.
    Ich erzählte ihm in aller Kürze, dass Irina mich in die Wohnung gelockt habe, weil Oberst Kawerin Informationen von mir haben wollte, die ich aber gar nicht besaß. Er sei es gewesen, der Irinas Familie aufgrund falscher Anschuldigungen hatte einsperren lassen. Das Ganze sei aus dem Ruder gelaufen, als Irina sich auf ihn gestürzt hatte und Svend mir zu Hilfe gekommen war. Jetzt müssten wir irgendwie außer Landes kommen, aber wie? Merkwürdigerweise zweifelte ich nicht eine Sekunde daran, dass Keenan uns helfen würde, und ich fragte mich auch nicht, warum er das eigentlich tat. Gewisse Dinge weiß man eben instinktiv.
    »Was machen wir mit den Toten?«, fragte ich.
    »Lassen sie hier liegen, was sonst«, antwortete Keenan. Ich schüttelte den Kopf und übersetzte für Svend, der überraschenderweise zustimmend nickte.
    Sie waren davon überzeugt, dass uns mindestens eine Woche, vielleicht sogar noch mehr Zeit bliebe. Das System arbeitete in diesem Fall für uns. Die Gesellschaft war von Angst geprägt. Jede Nacht verschwanden Menschen spurlos, wenn die Krähen durch die leeren, kalten Straßen fuhren. Man fragte nicht, wohin, und erst recht nicht, warum. Sowohl Reiche als auch Arme waren von einem Tag auf den anderen einfach nicht mehr da. In den Wohnungen oder in den Hotelzimmern hing ihre Kleidung noch in den Schränken, das Waschzeug war im Badezimmerdeponiert, ein Buch lag
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