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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt
Autoren: Leif Davidsen
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Verbindung nach Hawaii, das bekanntlich zu Amerika gehört.
    Es wurde eine lange, nicht sonderlich angenehme Reise. Der Kohlegeruch des Samowars, der am Ende des Waggons stand, mischte sich mit dem Gestank ungewaschener Körper. Diesmal reisten wir nicht erster Klasse. Es gab keinen viktorianischen Luxus mit Plüsch, Waschbecken und feinen Schlafkojen, den wir im Zug von der polnischen Grenze bis nach Moskau hatten genießen dürfen.
    Aber wir waren frei.
    Die Angst steckte uns zwar noch in den Knochen, aber sie legte sich immer mehr, je weiter wir uns von der Hauptstadt und den drei Leichen in der versiegelten Wohnung entfernten. Hin und wieder flackerte sie noch einmal auf, wenn wir durch die verschmierten Fenster schwere Güterzüge sahen, die auf einem Nebengleis hielten. Die toten Augen hoffnungsloser Menschen blickten durch die geöffneten Türen. Männer, Frauen und Kinderin zerschlissener Kleidung standen zusammengepfercht da wie Vieh. Die Fracht des Todes, die über die endlosen Steppen bis zu den großen Lagern in Sibirien transportiert wurde.
    Keenan hatte recht behalten. Niemand hatte es gewagt, das Siegel zu brechen. Die Angst hatte alle fest im Griff. Als wir den Ural ohne Zwischenfälle passiert hatten, atmeten wir erleichtert auf und konnten endlich wieder schlafen.
    Wir hatten nichts zu lesen, und so fing ich an, Svend meine Geschichte zu erzählen, und zwar von dem Moment an, als ich in meiner Geburtsstadt aus dem Zug gestiegen war, bis hin zum Blutbad in der Wohnung am Fluss. Es tat gut, mir alles von der Seele zu reden. Svend schrieb in seiner ordentlichen Stenoschrift mit, benutzte die Reporterblöcke, die ich in Berlin für uns besorgt hatte. Sie liegen hier neben mir. Sie sind vergilbt, und ich kann die Schatten von Tee- und Wodkaspritzern und einen verblassten roten Fleck von Marmelade erkennen, die Svend für uns gekauft hatte. Denn er war es, der uns, wenn der Zug in den Bahnhöfen haltmachte und prustend und eingehüllt in den wogenden Dampf im eisigen Frost dastand, etwas zu essen besorgte. Es dauerte Jahre, bis ich seine Stenozeichen dechiffriert und ins Reine geschrieben hatte, aber an Zeit mangelte es mir ja nicht.
    Ich rieche an dem Papier und vermisse meinen Freund, sein ansteckendes Lachen und den Idealismus, der ihn sein ganzes Leben lang gequält hat. Svend wollte an das Gute im Menschen glauben, obwohl die Menschen ihn ständig verrieten.
    Keenan hatte uns zum Bahnhof gebracht und sich per Handschlag von uns verabschiedet. Es hatte eine besondere Spannung in der Luft gelegen – eine zitternde Nervosität. Ich hatte ihn gefragt, warum er uns geholfen habe, und erinnere mich noch genau an seine prophetischen Worte:
    »Ich bin Brodersen einen großen Gefallen schuldig. Jetzt bist du mir etwas schuldig, und eines Tages werde ich dich bitten, den Schuldschein einzulösen.«
    Wir kamen planmäßig in Wladiwostok an, wo ein weiterer Mann jener merkwürdigen russischen Unterwelt mit Papieren bereitstand, die uns zu holländischen Seeleuten machten. Wir heuerten auf einem japanischen Frachtschiff an, das uns nach Yokohama brachte – in die offene Hafenstadt des japanischen Inselstaats.
    Erleichtert verließen wir die sowjetischen Gewässer. Svend kehrte nie mehr in das Land zurück, das für ihn einmal das Paradies auf Erden gewesen war.
    Ich kehrte erst 1986 dorthin zurück, als der neue Regierungschef, Michail Gorbatschow, ernsthaft mit Reformen begonnen hatte, die Stalins Reich schließlich zu Grabe tragen sollten. Man hatte mich als Ehrengast eingeladen und behandelte mich in jenem Klima von Zusammenarbeit und Versöhnung, das neuerdings zwischen Ost und West herrschte, außerordentlich zuvorkommend. Ich war Sponsor eines Fotowettbewerbs. Ein Komitee aus dänischen und sowjetischen Fotografen sollte erstmals den Irina-Schapatowa-Preis an den besten sowjetischen Nachwuchsfotografen verleihen, der den Wind der Veränderung, der über der Sowjetunion wehte, am prägnantesten festgehalten hatte. Ich hatte den Preis gestiftet und kam für alle damit verbundenen Kosten auf. Außerdem eröffnete ich eine Ausstellung mit Irinas Fotos aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Sie lagen gut erhalten in den Archiven, entweder als Abzüge, die sie in die Heimat geschickt hatte, oder als Negative. Die Ausstellung wurde sehr passend und symbolträchtig am 18. Juli 1986, dem fünfzigsten Jahrestag von Francos Aufstand gegen die legal gewählte Republik, eröffnet.
    All mein Geld aber half mir nicht,
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