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Die Wahrheit stirbt zuletzt

Die Wahrheit stirbt zuletzt

Titel: Die Wahrheit stirbt zuletzt
Autoren: Leif Davidsen
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offensichtlich an einflussreicher Stelle über Nikolai Jeschows doppeltes Spiel. Ich weiß es nicht mit absoluter Sicherheit, ich habe ihn nie danach gefragt, aber im April 1938 ernannte Stalin einen neuen Vizechef des NKWD, Lawrenti Beria. Jeschow wurde im Laufe des Sommers festgenommen und verschwand. Beria hatte seinen Posten bis zu Stalins Tod 1953 inne, dann wurde er selbst hingerichtet.
    Was mit jenem Mann passiert ist, den man den blutigen Zwerg nannte, vermag niemand mit Sicherheit zu sagen. Jeschow verschwand einfach, und die gängige Meinung ist die, dass er gefoltert, von einem heimlichen Standgericht verurteilt und schließlich hingerichtet wurde.
    Aber ich greife dem Gang der Ereignisse vor.
    Wir verbrachten einige Zeit in der japanischen Hafenstadt, erholten uns von den Moskauer Erlebnissen und ließen uns von einem tüchtigen japanischen Arzt behandeln. Mein Finger war nicht mehr ganz wiederherzustellen, auch wenn er ihn mir noch einmal brach und neu zusammensetzte. Seitdem habe ich einen steifen und krummen Finger, der mich immer an Moskau erinnert. Ich telegrafiertenach New York und ließ mir Geld schicken, dann nahmen wir das nächste Passagierschiff nach Honolulu auf Hawaii.
    Ich schrieb an Marie, hatte aber keine Lust, nach Dänemark zurückzukehren. Svend dagegen schon, er wollte nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern. Ich sorgte also dafür, dass er nach San Francisco kam und von dort aus weiter nach Europa und Dänemark. Ich drückte ihm die Hand, und wir sahen einander in die Augen. Wir rechneten beide nicht damit, uns jemals wiederzusehen. Dennoch verzichteten wir auf sentimentale hohle Floskeln.
    »Take care«, sagte er nur, und sein starker dänischer Akzent war selbst dabei nicht zu überhören.
    »You too, buddy« antwortete ich, als unsere Hände sich voneinander lösten.
    Er hängte sich seinen Seesack über die Schulter und ging an Bord. Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich den Menschen, den ich als meinen besten Freund ansah, die Gangway hinaufgehen sah, ohne dass er sich noch einmal umdrehte. Er hob bloß seinen Armstumpf und wedelte ein wenig damit herum. Er wusste, dass er mich damit zum Lachen bringen würde. Und das kam nur noch selten vor.
    Ich ließ mich auf der Insel Kauai nieder und heuerte auf einem Walfangschiff an. Die Arbeit dort lief gut, sie war hart, aber ertragreich, sodass ich einen Anteil an dem Schiff erwarb und mit einer der einheimischen Frauen zusammenzog, die akzeptierte, dass ich sie nicht heiraten wollte. In dem Sommer wurde ich sechsundzwanzig Jahre alt und überlegte ernsthaft, ob mein Leben überhaupt lebenswert war.
    Im Herbst 1938 las ich in der Zeitung über die Abschiedsparade der Internationalen Brigaden in Barcelona und dachte an Mads und Irina. Im März 1939 las ich überdie Niederlage der Republik und Francos Sieg und dachte an Mads und Irina. Ich wurde Vater, aber das Kind starb mit nur vier Monaten an einem rätselhaften Virus. Wir versuchten es erneut, aber wir hatten kein Glück. Ich stach in See, und als wir im Hafen vor Anker lagen, las ich über den Angriff auf Polen am 1. September 1939 und die Siege der Nationalsozialisten in Europa, aber es schien mir alles sehr weit weg zu sein. Europa war eine andere Welt, die ich längst hinter mir gelassen hatte. Ich beantragte und erhielt die amerikanische Staatsbürgerschaft.
    Ich las über die Besetzung Dänemarks im April 1940 und schrieb an Marie. Das tat ich ohnehin jeden dritten Monat, gleichgültige, banale Briefe. Sie schrieb zurück, es sei merkwürdig, in einem besetzten Land zu leben, denn eigentlich gehe alles so weiter wie immer. Im April 1941 bekam ich wieder einen Brief von ihr. Unser Vater war ganz plötzlich an Herzversagen gestorben. Sein Tod berührte mich nicht sonderlich, aber er ließ mich wieder an Mads und unsere Kindheit denken.
    Ich lebte, ich verdiente Geld, ich war ein angesehener junger Mann auf der Insel. Meine Lebensgefährtin und ich lebten uns auseinander, aber ich fand eine neue Frau, die ebenfalls akzeptierte, dass ich nicht heiraten wollte. Es spielte keine große Rolle. Es spielte auch keine Rolle, dass ich mit einer Farbigen zusammenlebte. Hawaii war ein Ort, an dem man entspannt mit den Dingen umging. »Hang loose« nannten sie dieses Lebensgefühl, das mir sehr entgegenkam. Ich hielt mich mit Schwimmen und Tauchen und der harten Arbeit auf dem Walfangschiff in Form. Ich war meiner Lebensgefährtin oft untreu, besonders wenn wir unseren Fang auf den
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