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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel
Autoren: Anne Perry
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ärgerlich sein würde. Es war ihr auch gleichgültig, dass auch Tellman – Samuel – zornig sein würde.
    Dann hörte sie, wie er scharf den Atem einsog. An der jenseitigen Ecke des Platzes sah sie eine Gestalt, die mit ausgebreiteten Armen am Boden lag.
    Schwer atmend eilte der Polizeibeamte hin, wobei er fast gestolpert wäre.
    »Nein!«, sagte Tellman und hielt Gracie zurück. Doch im Schein der Blendlaterne sah sie, dass Lyndon Remus ebenso dort lag wie damals Kate Eddowes. Seine Kehle war durchgeschnitten, seine Eingeweide waren herausgerissen und ihm wie bei einem abscheulichen Ritual über die Schulter gelegt worden.
    Dieser entsetzliche Anblick brannte sich für immer in Gracies Erinnerung. Sie wandte sich ab und barg ihren Kopf an Tellmans Brust. Sie spürte, wie sich seine Arme schützend um sie legten und er sie fest an sich drückte, als wolle er sie nie wieder loslassen.
    Remus hatte die Wahrheit gekannt und mit seinem Leben dafür bezahlt. Jetzt brannte die Frage in ihr: Wie sah die Wahrheit aus? Hatte ihn der Mann, der hinter den Morden von Whitechapel stand, getötet, weil Remus von der Verschwörung zur Vertuschung von Prinz Eddys Mesalliance wusste? Oder stand der Innere Kreis dahinter, weil diesen Männern bekannt war, dass Remus’ Annahme nicht stimmte und der Mann mit dem Lederschurz, den der Volksmund Jack the Ripper nannte, ein verrückter Einzelgänger war, wie das die Öffentlichkeit von Anfang an vermutet hatte?
    Remus hatte das Geheimnis mit in seinen entsetzlichen Tod genommen, und niemand würde je die Geschichte berichten, auf die er gestoßen war – ganz gleich, wie sie aussehen mochte.
    Gracie drängte sich enger an Tellman und spürte seine Wange und seine Lippen auf ihrem Haar.
     
    In Isaaks und Leas Haus war es still. Es schien in ihrer Abwesenheit fast tot zu sein. Pitt hörte seine eigenen Schritte im Gang. Laut klirrte das Geschirr, während er in der Küche sein Abendessen zubereitete. Selbst das Geräusch des Löffels auf dem Boden der Schüssel wirkte störend. Zwar hielt Pitt das Feuer im Herd in Gang, um kochen zu können und zumindest heißes Wasser zu haben, doch die wahre Wärme in der Küche war, wie er jetzt merkte, von Leas Gegenwart ausgegangen.
    Er aß allein, und da er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen, ging er früh zu Bett. Er lag noch wach im Dunkeln, als er das gebieterische Klopfen an der Tür hörte.
    Sein erster Gedanke war, dass es weitere Schwierigkeiten in der jüdischen Gemeinschaft gegeben hatte und jemand bei Isaak Hilfe suchen wollte. Zwar würde Pitt in einem solchen Fall nichts tun können, aber er konnte zumindest öffnen.
    Während er halb angekleidet die Treppe hinabging, fiel ihm auf, dass das Klopfen herrisch wirkte, als hätte der Einlass
Begehrende einen Anspruch auf Gehorsam. Doch war es zugleich zurückhaltender und weniger ungeduldig als kürzlich bei Harper.
    Unten angekommen, tat er die drei Schritte durch die Diele und schob den Riegel zurück.
    Victor Narraway kam ohne Umschweife herein und schloss die Tür hinter sich. Im Schein der Gaslampe wirkte sein Gesicht abgespannt, die vom Nebel feuchte Luft ließ sein dichtes Haar wirr um den Kopf stehen.
    Eine böse Vorahnung erfüllte Pitt. Vor seinem inneren Auge jagte eine scheußliche Vorstellung die andere, und er fragte: »Was gibt es?«
    »Ich habe soeben von offizieller Stelle erfahren, dass Voisey Mario Corena erschossen hat«, sagte Narraway mit heiserer Stimme.
    Pitt war benommen. Zuerst begriff er nicht recht. Er konnte mit dem Namen Corena nichts anfangen, und Voisey war ihm nicht persönlich bekannt. Ein Blick auf Narraways Gesicht zeigte ihm, dass die Sache von höchster Bedeutung war.
    »Mario Corena gehörte zu den ganz großen Helden der 48er Revolutionen auf dem europäischen Festland«, sagte Narraway mit unüberhörbar tiefer Trauer. »Er war einer der Tapfersten und Großherzigsten.«
    »Und was wollte er hier in London?« Pitt wusste immer noch nicht, was er denken sollte. »Welchen Grund hatte Voisey, ihn zu erschießen?« Erinnerungen an Dinge, die Charlotte und Vespasia gesagt hatten, stiegen in ihm auf. »Ist das nicht einer der Vorkämpfer für die Republik? Der Name Corena klingt, als ob er Italiener wäre – was geht das Voisey an?«
    Narraways Gesicht verzog sich schmerzlich. »Corenas Bedeutung ging über die Grenzen seines Volkes hinaus, Pitt. Abgesehen von allem anderen, war er eine große Persönlichkeit. Er war Zeit seines Lebens bereit,
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