Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Gesetz nicht einfach in den Arm fallen. Corena war wohl außerstande, das zu begreifen. Er war geradezu … unbeherrscht,
wild. Mir blieb keine Wahl. Er hat sich wie ein Verrückter auf mich gestürzt und geschworen, er würde mich umbringen. Ich habe mit ihm gerungen, konnte ihm aber die Waffe nicht entwinden.« Der Anflug eines Lächelns trat auf seine Lippen, das wohl eher sein Erstaunen als seine Belustigung ausdrücken sollte. »Für einen so alten Mann war er unvorstellbar stark. Dann löste sich ein Schuss.« Er sagte nichts weiter; es wäre auch überflüssig gewesen.
    Pitt sah auf Voiseys Hemdbrust Blut in einer Höhe, die zu Corenas Wunde passte. Es konnte stimmen.
    »Ich verstehe«, sagte Narraway finster. »Sie behaupten also, in Notwehr gehandelt zu haben.«
    Voiseys Brauen hoben sich. »Was denn sonst? Großer Gott – glauben Sie etwa, ich hätte den Mann absichtlich erschossen?« Seine Verblüffung und Ungläubigkeit waren so groß, dass ihm Pitt unwillkürlich glaubte.
    Wortlos machte Narraway auf dem Absatz kehrt und ging mit langen Schritten hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
    Nach einem weiteren Blick auf Voisey folgte ihm Pitt.
    Im Vestibül blieb Narraway stehen. Als ihn Pitt erreicht hatte, sagte er sehr leise: »Sie kennen ja wohl Lady Vespasia Cumming-Gould?« Es war keine wirkliche Frage, und er wartete gar nicht erst auf eine Antwort. »Vielleicht haben Sie nicht gewusst, dass Corena die große Liebe ihres Lebens war. Fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß: Es genügt, dass es mir bekannt ist. Ich denke, Sie sind der Richtige, es ihr zu sagen. Sie soll es nicht aus den Zeitungen erfahren oder von jemandem, der nicht weiß, was es für sie bedeutet.«
    Es kam Pitt vor, als hätte ihm jemand einen so kräftigen Schlag versetzt, dass er keine Luft mehr bekam. Er hatte den Eindruck, nicht weiteratmen zu können. Alles krampfte sich in ihm zusammen, sodass er seinen Schmerz fast hinausgeschrien hätte.
    Vespasia!
    »Bitte gehen Sie zu ihr«, drang Narraway in ihn. »Sie darf es auf keinen Fall von einem Fremden erfahren.« In seinen Augen erkannte Pitt, dass er es als Bitte meinte.
    Es gab nur eine mögliche Antwort darauf. Pitt nickte, weil er nicht wusste, ob er Worte herausgebracht hätte, und trat dann hinaus auf die stille Straße.
    Er nahm die erste Droschke, die vorüberkam, und nannte dem Kutscher Vespasias Anschrift. Ohne etwas zu denken, fuhr er durch die Dunkelheit. Es hatte keinen Sinn, sich zurechtzulegen, wie er es sagen wollte. Es gab keine passenden Worte.
    Die Droschke hielt an, und er stieg aus. Kaum hatte er geklingelt, wurde zu seiner Überraschung schon geöffnet.
    »Guten Abend, Sir«, sagte der Butler. »Treten Sie näher, ich werde Sie der gnädigen Frau melden.«
    »Danke.« Verwirrt folgte Pitt dem Butler wie in einem Albtraum ins gelbe Zimmer, wo er wartend stehen blieb. Er merkte nicht, wie lange es dauerte, bis sich die Tür öffnete und Vespasia eintrat. Statt zwei oder drei Minuten hätten es ebenso zehn sein können. Sie trug ein langes Seidenkleid in gebrochenem Weiß, und ihre Haare waren locker hochgesteckt. Sie wirkte alt, zerbrechlich und war von nahezu ätherischer Schönheit. Es war unmöglich, in ihr nicht die leidenschaftliche Frau zu sehen, die vor einem halben Jahrhundert in einem Sommer in Rom in unvergesslicher Weise geliebt hatte.
    Pitt spürte, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen. Es kam ihm vor, als schnüre es ihm die Kehle zu.
    »Es ist schon gut, Thomas«, sagte sie so leise, dass er es kaum hörte. »Ich weiß, dass er tot ist. Er hat mir geschrieben, was er tun wollte. Er hat James Sissons in der Überzeugung getötet, dass dieser zum Selbstmord entschlossen war, ihn aber im letzten Augenblick der Mut zum Heldentum verlassen hatte.« Sie hielt einen Moment inne, bemüht, ihre Fassung zu wahren. »Du kannst gern Gebrauch davon machen, damit niemand Isaak Karansky ein Verbrechen zur Last legt, das er nicht begangen hat. Möglicherweise kannst du ja erreichen, dass man Charles Voisey für seine Tat zur Rechenschaft zieht, obwohl ich nicht so recht weiß, wie du das anstellen willst.«
    Es widerstrebte Pitt sehr, ihr die Wahrheit zu sagen, aber er hätte mit dieser Lüge nicht leben können.
    »Voisey sagt, dass er ihn in Notwehr erschossen hat. Ich weiß nicht, wie wir ihm das Gegenteil beweisen sollen.«
    Vespasia erwiderte mit einem angedeuteten Lächeln: »Ich bin allerdings davon überzeugt, dass es für Charles Voisey
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher