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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel
Autoren: Anne Perry
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spielt keine Rolle«, sagte sie knapp. »Wenn ich Ihnen folgen kann, können die das auch! Sei’n Se vorsichtig und tun Se, was er sagt.« Bei diesen Worten wies sie auf Tellman.
    »Schön, ich werde mich daran halten. Jetzt gehen Sie aber«, sagte Remus und drückte gegen die Tür.
    Im Bewusstsein, dass sie alles getan hatten, was sie konnten, traten Gracie und Tellman den Rückzug an.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite blieb Tellman stehen und sah Gracie fragend an.
    »Der hat was vor«, sagte sie bestimmt. »Er hat Angst, gibt aber nich auf.«
    »Das nehme ich auch an«, sagte Tellman leise. »Ich werde ihm folgen und zusehen, ob ich ihn schützen kann. Sie gehen nach Hause!«
    »Ich komm mit.«
    »Tun Sie nicht!«
    »Ich komm mit oder lauf Ihnen nach.«
    »Gracie – «
    In diesem Augenblick öffnete sich Remus’ Haustür erneut, und er kam heraus. Erst sah er sich aufmerksam um, dann machte er sich auf den Weg, wohl in der Annahme, die beiden seien gegangen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt zum Streiten; sie mussten ihm auf der Fährte bleiben.
    Nahezu zwei Stunden lang folgten sie ihm: zuerst in den Stadtteil Belgravia, wo er sich etwa fünfundzwanzig Minuten lang aufhielt. Dann ging es südostwärts zur Themse und eine ganze Weile an deren Ufer entlang. Kurz vor dem Tower verloren sie ihn aus den Augen. Offenbar setzte er seinen Weg weiter ostwärts fort. Allmählich wurde es dunkel.
    Tellman schimpfte enttäuscht, achtete aber diesmal sorgfältig auf seine Ausdrucksweise.
    »Er hat uns mit voller Absicht hinters Licht geführt!«, sagte er wütend. »Wahrscheinlich hat er gemerkt, dass wir hinter ihm her sind. Wir waren wohl zu nahe an ihm dran. So ein Ärger!«
    »Schon möglich«, sagte sie. »Vielleicht is es ihm aber gar nich darum gegangen, uns loszuwerden, und er war nur vorsichtig, wie wir ihm das geraten haben.«
    Mit finsterer Miene und schmalen Lippen auf dem Gehweg stehend, sah Tellman angestrengt dorthin, wo sie Remus zuletzt gesehen hatten.
    »Auf jeden Fall haben wir ihn aus den Augen verloren. Ich möchte wetten, dass er wieder auf dem Weg nach Whitechapel ist!«
    Es wurde immer dunkler. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war der Laternenanzünder eifrig bei der Arbeit.
    »Hier finden wir ihn nie.« Tellman ließ den Blick über den dichten Verkehr schweifen. Auf dem Pflaster hörte man das Hufgetrappel und das Rumpeln der Wagenräder. Gelegentlich stieß einer der Fuhrleute einen lauten Ruf aus. Jeder schien darauf bedacht, möglichst rasch voranzukommen. Ganz davon abgesehen, dass ihnen zahlreiche Menschen und Pferde den Blick versperrten, konnte man im trüben Licht kaum fünfzig Schritt weit sehen.
    Gracie empfand bittere Enttäuschung. Mehr noch als ihre schmerzenden Füße und ihr Hunger beherrschte sie die Befürchtung, Remus habe nicht wirklich verstanden, in welcher Gefahr er sich befand. Sie wünschte, sie könnte ihm das klarmachen.
    »Kommen Sie, Gracie«, forderte Tellman sie freundlich auf. »Es hat keinen Sinn – er ist uns durch die Lappen gegangen. Wir wollen irgendwo etwas essen.«
    Er wies zu einem Lokal auf der anderen Straßenseite.
    Die Vorstellung, sich setzen zu können und die Füße auszuruhen, war für Gracie noch verlockender als der Gedanke an Essen. Da sie wirklich nichts weiter tun konnten, stimmte sie zu und folgte ihm langsam – nicht weil sie gezögert hätte, sondern weil sie völlig erschöpft war.
    Es war ein wahrer Segen, sich ausruhen zu können. Sie genoss die Mahlzeit mit ihm im Bewusstsein, dass sie bisher immer in der Küche in der Keppel Street gemeinsam etwas gegessen hatten, was sie zubereitet hatte. Sie unterhielten sich über dies und jenes. Tellman berichtete über seine ersten Jahre
bei der Polizei, über Erlebnisse, die zum Teil recht lustig waren, sodass sie laut lachen musste. Bisher war ihr noch gar nicht aufgefallen, dass er auf seine Weise durchaus ein Empfinden für das Absurde hatte.
    »Wie heißen Sie?«, fragte sie mit einem Mal, als er gerade den Bericht über ein Abenteuer beendet hatte, durch den sie viel über sein wahres Wesen erfahren hatte.
    »Was?« Er war unsicher, wusste nicht, was sie meinte.
    »Wie Sie heißen«, wiederholte sie. Jetzt war sie befangen. Sie wollte ihn sich nicht immer als »Tellman« vorstellen müssen, wollte wissen, wie ihn Menschen nannten, die ihm nahe standen.
    Sein Gesicht rötete sich, und er sah auf seinen leeren Teller hinab.
    »Entschuldigung«, sagte sie unglücklich.
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