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Die Verschwoerung von Whitechapel

Die Verschwoerung von Whitechapel

Titel: Die Verschwoerung von Whitechapel
Autoren: Anne Perry
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nicht«, gestand er. Er sah verwirrt drein. In seinen dunklen Augen lag noch etwas anderes. Vielleicht hatte er Angst – nicht eine vorübergehende Furcht, wie man sie bisweilen empfindet, sondern eine so tiefe und dauerhafte Angst, dass er nicht gegen sie ankämpfen konnte.
    Wieder wartete sie.
    »Aber darum geht es auch gar nicht.« Er stellte die leere Tasse hin und sah Gracie an. »Es geht um Remus. Ich habe Angst um ihn. Was, wenn er Recht hat und das alles wirklich stimmt? Die Leute hatten keine Bedenken, fünf Frauen in Whitechapel abzuschlachten, ganz davon zu schweigen, was sie Annie Crook und dem Kind angetan haben.«
    »Vergessen Sie den armen Prinz Eddy nich«, warf Gracie ein. »Meinen Sie etwa, der is auf natürliche Weise gestorben?«
    Tellmans Augen weiteten sich. Sein Gesicht wurde noch bleicher.
    »Sagen Sie so etwas nicht! Denken Sie es nicht einmal! Hören Sie!«
    »Ja, ich hör. Aber Sie ha’m auch Angst, und sagen Sie mir bloß nich, dass das nich stimmt.« Sie meinte es nicht als Vorwurf. Er wäre in ihren Augen ein Dummkopf gewesen, wenn er
keine Angst gehabt hätte. »Sie ha’m also um Remus Angst?«, fuhr sie fort.
    »Es würde ihnen nicht das Geringste ausmachen, ihn umzubringen«, gab er zur Antwort.
    »Immer angenommen, er hat Recht«, sagte sie. »Was is aber, wenn er Unrecht hat? Wenn es überhaupt nix mit Prinz Eddy zu tun hat und der Innere Kreis sich das alles aus den Fingern gesogen hat?«
    »Ich habe trotzdem Angst um ihn«, beharrte er. »Es ist immerhin wahrscheinlich, dass sie ihn erst für ihre Zwecke benutzen und ihn dann beseitigen.«
    »Und was könn’ wir tun?«, fragte sie schlicht.
    »Sie tun überhaupt nichts!«, verwies er sie scharf. »Sie bleiben hier und sehen zu, dass die Tür verschlossen bleibt.« Er drehte sich auf seinem Stuhl um. »Sie hätten die Hintertür abschließen müssen!«
    »Um halb fünf am Nachmittag?«, fragte sie ungläubig. »Hinter mir is doch keiner her! Wenn ich da abschließen wollte, würde doch jeder glauben, dass ich nich ganz richtig im Kopf bin.«
    Er errötete leicht und sah beiseite.
    Ihr Versuch, das Lächeln zu verbergen, das unwillkürlich auf ihre Züge trat, misslang. Seine Angst um sie veranlasste ihn zu übermäßiger Fürsorge. Jetzt war er verlegen, weil er seine Empfindungen gezeigt hatte.
    Er sah sie lächeln. Ausnahmsweise deutete er es richtig, und seine Röte vertiefte sich. Zuerst hielt sie das für ein Anzeichen von Verärgerung, doch zeigte ihr ein Blick in seine Augen, dass er sich freute. Auch sie hatte ihm ihre Empfindungen gezeigt. Nun ja … Irgendwann ist jedes Versteckspiel zu Ende.
    »Und was machen wir also?«, erkundigte sie sich noch einmal. »Wir müssen ihn warnen. Wenn er nich auf uns hören will, kann man ihm nich helfen. Aber versuchen müssen wir’s, oder mein’ Sie nich?«
    »Auf mich hört er nicht«, sagte er matt. »Er glaubt, dass er auf der Spur der Zeitungssensation des Jahrhunderts ist. Da lässt er mit Sicherheit nicht locker, ganz gleich, wohin ihn das führt. Er ist ein Fanatiker, das habe ich in seinem Gesicht gesehen.«
    Gracie erinnerte sich an Remus’ wilden Blick und auch an die Szene im Gasthaus, als er seinen Aal gegessen hatte. »Bestimmt hat er auch Angst. Lassen Sie mich mitkomm’. Wir reden ihm zu zweit zu.«
    Tellman zögerte. In sein Gesicht waren tiefe Linien eingegraben. Niemand kümmerte sich um ihn. Er hatte keinen Menschen, dem er seine Befürchtungen oder das Schuldbewusstsein hätte mitteilen können, das ihn heimsuchen würde, wenn Remus etwas zustieß, ohne dass er einen Versuch unternommen hätte, ihn zu warnen.
    Sie stand auf. Die Stuhlbeine scharrten über den Fußboden. »Ich hol noch Tee. Wie wär’s mit ’ner Portion aufgewärmtem Kohl und Kartoffeln? Es sind noch Unmengen davon da. Ich könnte auch frische Zwiebeln reinschneiden. Wär das was?«
    Er entspannte sich. »Meinen Sie?«
    »Natürlich nich!«, sagte sie schnippisch. »Ich steh hier rum, weil ich nich weiß, was ich will! Was glau’m Se eigentlich?«
    »Passen Sie nur auf, dass Sie sich mit Ihrer Zunge nicht eines Tages schneiden!«, teilte er ihr mit.
    »Entschuldigung«, sagte sie kleinlaut. Es war ihr ernst. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihn so angegiftet hatte. Vielleicht, weil sie sich gern mehr um ihn gekümmert, mehr für ihn getan hätte, als ihm recht war, als er sich gefallen ließ.
    Als ihr das aufging, errötete sie mit einem Mal, und so drehte sie sich rasch um und
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