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32 - Der Blaurote Methusalem

32 - Der Blaurote Methusalem

Titel: 32 - Der Blaurote Methusalem
Autoren: Karl May
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ERSTES KAPITEL
    Im Pfeffergäßchen
    Mein lieber Leser, hast du vielleicht den ‚blauroten Methusalem‘ gekannt? Ganz gewiß, nämlich wenn du in der betreffenden Universitätsstadt geboren bist oder, wenn auch nur für einige Tage, als Gast dort geweilt hast. Er war das lebendige Wahrzeichen der dortigen Alma mater. Niemand konnte an ihm vorübersehen, und wer ihn einmal erblickt hatte, dem war es unmöglich, ihn jemals wieder zu vergessen.
    Er wohnte seit wer weiß wie vielen Semestern im Pfeffergäßchen und studierte – ja, wer konnte das wohl sagen! Wem es eingefallen wäre, ihn danach zu fragen, dem hätte er mit der Klinge geantwortet, und er war als der beste Schläger bekannt und gefürchtet.
    Zur ganz bestimmten Minute trat er aus dem Haus, in dessen Parterre der chinesische Teehändler Ye-kin-li einen prächtig eingerichteten Verkaufsladen besaß, schritt, gefolgt von seinem Wichsier, die Straße entlang, bog rechts in die Humboldtstraße ein und verschwand dort in der Tür des ‚Geldbriefträgers von Ninive‘. So nämlich nannten die Studenten dieses vielbesuchte Bierlokal. Genau zu einer ebenso bestimmten Minute verließ er dasselbe, um nach seiner Wohnung zurückzukehren.
    Das geschah täglich dreimal: vormittags, nachmittags und des abends, und zwar mit solcher Regelmäßigkeit, daß die Anwohner der Humboldtstraße und des Pfeffergäßchen es sich angewöhnt hatten, ihre stehengebliebenen oder falsch gehenden Uhren nach ihm zu richten.
    Eines Tages aber warteten sie vergeblich auf sein Erscheinen. Man wunderte sich; man schüttelte den Kopf. Als er auch am nächsten Tag nicht erschien, begann man, bedenklich zu werden. Am dritten Tag beschloß man, Frau Stein, seine Wirtin, zu interviewen, und erfuhr auf diesem Weg, daß er die Miete für zwei Jahre vorausbezahlt habe und dann verschwunden sei. Wohin? Das war nicht zu erfahren. Erst später sprach es sich herum, daß er den Sohn der Wirtin mitgenommen habe. Diese mußte das Ziel der Reise kennen, und da sie sich nicht ein darauf bezügliches Wort entlocken ließ, so handelte es sich jedenfalls um ein Geheimnis, dessen Enthüllung man der Zukunft überlassen mußte.
    An jenem Vormittag, an welchem der ‚blaurote Methusalem‘ zum letztenmal im ‚Geldbriefträger von Ninive‘ gesehen worden war, hatte er selbst keine Ahnung davon gehabt, daß er am Nachmittag nicht wiederkommen und sogar für viele Monate sich fern von hier befinden werde.
    Wie gewöhnlich schritt er in gravitätischer, bärenhafter Langsamkeit die Humboldtstraße zurück und ergötzte sich im stillen über die Aufmerksamkeit, welche er heute wie stets erregte. Seine Erscheinung war freilich auffallend genug.
    Er war von hoher, breiter, wahrhaft hünenartiger Gestalt und trug sein Hektoliterbäuchlein mit dem Anstand eines chinesischen Mandarinen erster Klasse. Sein Gesicht war von einem dunklen, wohlgepflegten Vollbart eingerahmt und zeigte die Fülle und Farbe eines braven Germanen, der sich darüber freut, daß die deutschen Biere längst ihren Triumphzug um die Erde vollendet haben. Quer über dieses Gesicht zog sich eine breite Narbe, die Nase in zwei ungleiche Hälften teilend – aber was für eine Nase! Ursprünglich war sie wohl das gewesen, was man eine Habichtsnase nennt; nach und nach aber hatte die Schärfe ihres Schnittes sich gemildert, um einer Fülle zu weichen, die von Semester zu Semester bedenklicher geworden war. Dazu war eine Färbung getreten, welche mit der Zeit alle zwischen dem lieblichen Fleischrot und einem tiefen Rotblau liegenden Nuancen durchlaufen hatte. Der Besitzer dieser Nase behauptete freilich, daß die Säbelwunde an dieser Färbung schuld sei; seine Korpsbrüder hingegen waren andrer Meinung. O Jugend, bewahre dich vor ähnlichem Ungefähr!
    Mag dem nun aber sein, wie es wolle; dieser Nase und der Anzahl seiner Semester hatte er den Namen der ‚blaurote Methusalem‘ zu verdanken. Er trug einen blausamtenen Schnürenrock, eine rote Weste, weiße Lederhosen und hohe, lacklederne Stulpenstiefel, an denen ungeheure Sporen klirrten, welche mexikanischen Ursprungs waren und deren Räder einen Durchmesser von drittehalb Zoll besaßen. Auf den lang herabwallenden, dichten Locken saß ein rotgoldenes Cerevis.
    Die Hände trug er weltverächtlich in den Hosentaschen. Zwischen den Zähnen hielt er das Mundstück einer persischen Wasserpfeife, deren Rauch er in dicken Schwaden von sich stieß.
    Vor ihm her schritt gewichtig ein riesiger
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