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32 - Der Blaurote Methusalem

32 - Der Blaurote Methusalem

Titel: 32 - Der Blaurote Methusalem
Autoren: Karl May
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Neufundländer, welcher das zwei Liter fassende Stammglas seines Herrn im Maul trug.
    Hinter dem letzteren folgte der Wichsier, in der linken Hand die Wasserpfeife tragend, deren Kopf wenigstens ein Pfund Knaster faßte. Ihr vier Ellen langer Gummischlauch führte nach dem Mund des qualmenden Studenten. In der rechten Hand, geschultert wie ein Schießgewehr, hielt der Wichsier einen langen, dünnen Gegenstand, in welchem die Begegnenden zu ihrem Erstaunen eine – Oboe erkannten.
    Dieser Pfeifen- und Oboenträger schien, ganz ebenso wie sein Herr, ein Original zu sein. Er hatte eines jener Gesichter, deren Alter sich nicht bestimmen läßt. Es war von unzähligen Runzeln und Furchen durchzogen, so daß von eigentlichen Zügen keine Rede sein konnte. Sah man ihn in stolzem Ernst, nur auf seinen Herrn achtend, hinter diesem herschreiten, so war man versucht, ihn für weit über vierzig Jahre alt zu halten. Fand man jedoch privatim die Gelegenheit, das listige Blinzeln seiner kleinen Äuglein zu beobachten, seine gewandten Bewegungen zu bemerken und sich von seiner stets schlagfertigen geistigen Munterkeit zu überzeugen, so schätzte man ihn nicht viel über zwanzig Jahre. Auf darauf bezügliche Fragen antwortete er nie. Er hielt sein Alter ebenso wie die Semester seines Herrn und Gebieters in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt.
    Seine lange, schmale Gestalt war fast genauso gekleidet wie der ‚Methusalem‘, nur daß ihm anstatt des Cerevis eine weißleinene, schirmlose Mütze, wie Köche und Konditoren sie tragen, auf dem kurz geschorenen Haupt saß.
    So schritten sie die Humboldtstraße und dann das Pfeffergäßchen entlang, voran der Hund, dann der Herr und hinter diesem der Wichsier, einer geradeso würdevoll und gemessen wie der andere. Lächelnd blickte man ihnen nach.
    Eben als sie in den Flur des heimatlichen Hauses einbiegen wollten, wurde die Tür des chinesischen Ladens geöffnet, und der Besitzer trat heraus, in die weite, originelle Tracht des ‚himmlischen Reiches‘ gekleidet.
    Er hatte mit dem Studenten Freundschaft geschlossen, von ihm sich in der deutschen Sprache, die er, als er sich hier niederließ, nur gebrochen sprach, unterrichten lassen und ihm dafür so viel vom Chinesischen beigebracht, daß der ‚Methusalem‘ desselben recht leidlich mächtig war.
    „Tsching!“ grüßte der Teehändler, indem er sich verneigte.
    „Tsching tsching, mein lieber Ye-kin-li!“ antwortete der Student in seinem tiefen Bierbasse. „Wollen Sie ausgehen?“
    „'s sche tsche, Tschu – ja, Herr. Auf die Polizei.“
    „Zur Polizei? Was haben Sie denn mit den Herren dort zu tun? Haben Sie einen verlorenen Hausschlüssel gefunden? Oder sollen Sie wegen gefälschten Tees in Strafe genommen werden?“
    Der Chinese ließ seinen Zopf zärtlich durch die Hände gleiten, zog die haarlosen Brauen empor und antwortete in verbindlichem Ton: „Es gefällt Ihnen, zu scherzen! Ye-kin-li wird niemals Strafe zahlen, denn alle Waren sind echt, rein und spottbillig. Ich habe einen Brief aus der Heimat erhalten, den ich abgeben soll. Da der Name des Empfängers nicht im Adreßbuch steht, so muß ich mich im Einwohneramt erkundigen.“
    „Dessen bedarf es nicht, mein Verehrtester. Das zuverlässigste Adreßbuch ist hier vorhanden“ – er deutete nach seiner Stirn – „ich bin nicht umsonst Methusalem genannt. Viele wurden geboren, und viele starben; Tausende kamen als grüne Füchse und gingen fort als bleiche Philister; ich allein blieb stehen als Fels im fliegenden Sand, und ihre Namen sind eingetragen in den noch ungedruckten Annalen meines Genius. Wie lautet denn die Adresse?“
    „So!“
    Der Teehändler zog einen Brief aus seinem weiten Ärmel und zeigte denselben hin.
    Die Chinesen benutzen bekanntlich die Ärmel als Taschen. Der Brief trug weder Marke noch Stempel; er war also jedenfalls als Einlage nach Deutschland gelangt. Die nicht mit Feder, sondern mit Pinsel geschriebene Adresse lautete: „Dem Volksschullehrer Joseph Ferdinand Stein oder dessen Verwandten, früher wohnhaft Obergasse 12 parterre.“
    Der Student blickte nachdenklich und kopfschüttelnd auf das Papier.
    „Hm!“ sagte er. „Der Mann ist also nicht im Adreßbuch zu finden?“
    „Nein.“
    „Auch ich weiß, daß kein Lehrer dieses Namens hier angestellt ist. Wahrscheinlich ist der Adressat verstorben und – ah! Heureka! Vielleicht ist meine Wirtin seine Witwe! Vertrauen Sie mir den Brief auf einige Augenblicke an, lieber Freund!
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