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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Autoren: Christoph Marzi
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sich zwischen den Wolken aufgetan hatten, wie Nadelstiche im Mantel der Nacht. Dünne Schneeflocken begannen auf London herabzurieseln. Bald schon würden sie die Straßen in ein Wintermärchen verwandeln. »Danke«, sagte sie, und keine zehn Minuten später war Aurora in ihrem Arm eingeschlafen.
    Morgen Nacht würden sie nicht friedlich in ihren Betten liegen.
    Einen Plan würden sie in die Tat umsetzen.
    Gemeinsam.
    Vielleicht hätte Emily gezögert, wenn sie geahnt hätte, was ihr bevorstand.
    Doch da sie nicht das Geringste ahnte, zögerte sie in ihrer kindlichen Unbefangenheit nicht einen einzigen winzigen Augenblick. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Beinahe jedenfalls.
    Reverend Charles Dombey war ein Mann des Glaubens, ein feuriger Protestant, und als solcher betrachtete er unehelich gezeugte und geborene Kinder als Ausgeburt der Sünde. Folglich hatte er es im Waisenhaus mit einer Vielzahl kleiner Sünder zu tun, die es erst einmal zu bekehren galt. Die dazu geeigneten Instrumente waren Strenge und Disziplin und ein unerschütterlicher Glaube an Gott, Jesus und die Jungfrau Maria.
    Der Reverend musste selbst einmal verheiratet gewesen sein, doch fanden sich im ganzen Haus keinerlei Hinweise auf die Existenz einer Gattin. Böse Zungen behaupteten sogar, dass es niemals eine solche Frau gegeben hatte und dass Charles Dombey junior das Ergebnis einer sündigen Vereinigung oder das Resultat eines misslungenen Experiments gewesen sei. Nichts im Verhalten des alten Mannes deutete darauf hin, dass Charles junior sein Sohn war oder er ihm gegenüber väterliche Gefühle hegte. Es gab keinerlei vertraute Gesten. Die beiden verhielten sich wie Geschäftspartner, und manchmal schien es, als gälten die Sympathien des knochig-mageren Reverends eher dem missmutigen Mr. Meeks als seinem eigenen Sohn.
    »Der Reverend hasst Kinder!«
    Emily hatte es Aurora verkündet, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten.
    »Niemals wird er dir helfen.«
    Emily hatte Aurora in der Mädchentoilette im zweiten Stock kennen gelernt. Unter einem der Waschbecken hatte Aurora Fitzrovia gekauert, und Tränen waren ihr über das Gesicht gelaufen. Gezittert hatte sie am ganzen Körper.
    »Ich bin Emily«, hatte Emily sich vorgestellt.
    Von da an waren sie Freundinnen gewesen.
    Unzertrennbar.
    Vier Jahre war das nunmehr her. Eine Ewigkeit für ein Kind, das nie etwas anderes als die Mauern von Rotherhithe gesehen hat.
    Der Reverend, und das erkannte Aurora sehr schnell, mochte Kinder wirklich nicht.
    Diejenigen Kinder, die nicht an Ehepaare vermittelt werden konnten, arbeiteten für ihn. So waren sie wenigstens von Nutzen für das Waisenhaus. Die einzige Person, welcher der Reverend Respekt entgegenbrachte, war Madame Snowhitepink. Die beiden führten lange Gespräche in der Kammer und lächelten meistens schmallippig und zufrieden, wenn sie nach ihren Treffen die Kammer verließen. Während dieser Treffen hielten sie die Tür zur Kammer sorgsam verschlossen und niemandem, nicht einmal Mr. Meeks, war es erlaubt, die beiden zu stören. Es gab noch eine Treppe, die in einen Keller unterhalb des Kellers führte. Dort stiegen Reverend Dombey und Madame Snowhitepink oft hinunter und blieben lange Zeit verschwunden. Keines der Kinder wusste, wohin diese Treppe führte oder was die beiden dort unten trieben. Experimente, flüsterten die einen. Hexenkunst, munkelten die anderen. Die Wahrheit, hatte Emily von Anfang an gedacht, liegt wohl irgendwo dazwischen.
    Den Schlüssel zur Kammer trug der Reverend allzeit bei sich.
    Es war unmöglich, ihm den Schlüssel zu entwenden.
    Doch Emily hatte wie gesagt einen Plan.
    »Endlich werden wir erfahren, wer unsere Eltern sind«, flüsterte Emily in die Stille des Schlafsaals, »und dann werden wir von hier fliehen und sie suchen.« Der Gedanke an dieses Abenteuer zauberte ein Leuchten in ihr gesundes Auge.
    »Wenn sie uns aber gar nicht haben wollen?«, gab Aurora zu bedenken.
    »Dann geben sie uns vielleicht Geld, damit wir wieder verschwinden, und mit diesem Geld können wir irgendwo ein neues Leben beginnen.« Mit Geld könnte sie sich eine Fahrkarte kaufen und den nächsten Zug besteigen. Irgendwohin. Jeder Ort wäre besser als dieser hier. Die Welt stünde ihnen offen. Emily Laing und Aurora Fitzrovia, die mutigen und entschlossenen Freundinnen, würden ihr Glück in der Welt da draußen finden, und es würde der Tag kommen, an dem sie auf einer Veranda sitzen und auf das Meer
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