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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Autoren: Christoph Marzi
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seinen Augen aufblitzte, wenn er den Rohrstock niedersausen ließ.
    Das Waisenhaus war in einem alten Backsteinhaus untergebracht, dessen Fassade bröckelte und das einstmals, in den alten Zeiten, als Hafenmeisterhaus gedient hatte. Der Reverend, hager und hakennasig, und sein Sohn, feist und nörgelig, bewohnten das oberste Stockwerk, von wo aus sie einen schönen Ausblick auf das gegenüberliegende Themse-Ufer hatten und des Nachts die hell erleuchtete Kuppel von St. Paul’s bewundern konnten. Wenngleich auch keines der Kinder den beiden genügend Feingefühl zugesprochen hätte, einen solchen Anblick überhaupt bemerken, geschweige denn ihn genießen zu können. Die älteren Kinder munkelten, es gäbe dort oben Reichtümer, die der Reverend von den Eltern der Kinder als Bezahlung erhalten habe dafür, dass diese sich nun nicht mehr mit ihren Bälgern abzugeben brauchten. Doch keines der Kinder hatte je einen Fuß in die Räume des Reverends gesetzt.
    Schlimmstenfalls wurde ein Kind ins Büro des Reverends gerufen, wo es entweder eine Bestrafung zu erwarten hatte oder eine neue Aufgabe zugesprochen bekam. Das Büro, von den Kindern nur als »die Kammer« bezeichnet, befand sich im Stockwerk unter der Wohnung der Dombeys. Es roch dort staubig nach schimmligen Akten, die sich in Regalen aus dunklem Holz bis unter die hohe Decke stapelten und die, so munkelte man, die Geheimnisse über die Herkunft der Kinder enthielten. Nur dürftiges Licht fiel durch das schmale, schmutzig milchglasige Fenster ins Innere. Auf dem Schreibtisch lag immer eine dicke Bibel, aus welcher der Reverend mit feuriger Leidenschaft zu zitieren pflegte, bevor der Rohrstock herniederfuhr.
    Ein- bis zweimal in der Woche musste jedes Kind eine Aufgabe verrichten.
    Oftmals kamen Leute »von draußen« vorbei, die Arbeit offerierten.
    Auskehren einer Werkstatt. Handlangerdienste auf einer Baustelle. Botengänge in Rotherhithe und Whitechapel. Blumenverkauf am Blackfriars-Bahnhof. Putzdienste bei den Geschäftsleuten im Norden der Stadt. Bebetteln der Touristen am Parlament und der Westminster Abtei.
    »Arbeit vertreibt die unnützen Gedanken«, pflegte der Reverend in seinen Predigten, die er jeden Mittwoch und jeden Sonntag im Speisesaal hielt, zu verkünden. Die kleinen Almosen, die manche Kunden den Kindern zusteckten, flossen jedenfalls in den Geldbeutel der Dombeys und mehrten die Reichtümer im Obergeschoss. Hin und wieder kam es vor, dass eine Frau eines der Kinder gegen Bezahlung abholte und erst nach etlichen Stunden zurückbrachte. Nachher war jedoch keines, weder Junge noch Mädchen, bereit, über das Erlebte zu sprechen.
    Ohne Ausnahme fürchteten sich alle Kinder vor dem Besuch jener Frau, die im Waisenhaus nur unter dem Namen Madame Snowhitepink bekannt war.
    »Kinder«, pflegte sie zu sagen, »sind eine Plage.«
    Ihre hellen Katzenaugen musterten jedes der Kinder eindringlich, bevor sie eines erwählte, mit ihr zu kommen.
    Doch kehren wir zurück zu dem kleinen Mädchen, das in eben diesem Augenblick durch die kalte Nacht irrt.
    Emily Laing, dem Reverend bekannt als Nummer Neun.
    Madame Snowhitepink geläufig als die »einäugige Missgeburt«.
    »Kein Mensch wird für sie bezahlen.«
    Wie oft schon hatte Emily diese Worte vernommen. Die anderen Kinder beneideten sie darum.
    »Sie ist hässlich.«
    Madame Snowhitepink, die kein Hehl aus ihrer Meinung machte, war allzeit gut gekleidet. Trug Schwarz und war weiß geschminkt. Lippenstift in Pink, und die hellen Katzenaugen ließen sie wie ein Raubtier erscheinen, das auf Beute aus war.
    »Diese Missgeburt!«
    Dabei irrte sie in doppelter Weise.
    Zum einen besaß Emily zwei Augen.
    Ein helles wachsames und eines aus Glas.
    Dass sie nur durch eines der beiden Augen sehen konnte, tat ihrer Ansicht nach nichts zur Sache. Sie war keine Missgeburt. Das gläserne Auge verdankte sie dem Hausmeister und nicht ihrer Geburt. Als Emily sechs Jahre alt gewesen war, hatte sie hin und wieder in der Küche aushelfen dürfen. Die Köchin Mrs. Philbrick ließ sie Gemüse schneiden, während einer der älteren Jungen, dessen Name, so glaubte Emily sich zu erinnern, Paul gewesen war, das heiße Wasser vom Herd nehmen sollte. Eines Morgens stolperte der ungeschickte Junge und vergoss kochendes Wasser auf Mr. Biggels, den Kater des Hausmeisters. Jaulend wand sich der verbrühte Mr. Biggels auf dem Boden, als Mr. Meeks seinem Haustier zu Hilfe geeilt kam. Ohne lange nachzudenken erkannte der Hausmeister in Paul
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