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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Autoren: Christoph Marzi
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hinausschauen würden, eine Tasse Tee in der Hand und keinen Gedanken mehr an die Zeit verschwendend, als sie Sklavendienste in der Kellerküche im Waisenhaus verrichten mussten.
    Doch erst einmal mussten sie in die Kammer hineingelangen.
    »Wir schleichen uns weg, sobald Westminster zwölfmal läutet.«
    Zwei Schatten stahlen sich nach Mitternacht heimlich aus dem Schlafsaal, huschten leise wie die Mäuse den Korridor entlang, dann durchs Treppenhaus hinab in die Küche. Denn dort befand sich die Schwachstelle der Kammer. Ohne zu zögern schob Emily die kleine Tür des Lastenaufzugs nach oben. Wie lange niemand diese Einrichtung genutzt hatte, konnten die Mädchen nur erahnen. Die rostigen Scharniere ächzten bei jeder Bewegung. Dennoch hofften die beiden, dass das alte Ding noch funktionierte. Früher einmal, so konnte sich Emily erinnern, hatte Mrs. Philbrick dem Reverend oft auf diese Weise seinen Tee mitsamt Gebäck zur Nachmittagszeit nach oben geschickt. Doch dann war der Aufzug nicht mehr in Betrieb genommen worden, denn Reverend Dombey hatte keinen Tee mehr getrunken. Warum auch immer …
    Der Plan, den Emily geschmiedet hatte, war denkbar einfach: Sie würde in den Aufzug klettern, und Aurora würde die Mechanik bedienen, eine Kurbel, mit deren Hilfe man den Aufzug per Hand in Bewegung setzen konnte. So würde Emily die beiden Stockwerke bis hinauf in die Kammer des Reverends fahren, aus dem Aufzug krabbeln und die Aktenschränke durchsuchen. Dann käme sie auf eben dem Wege wieder nach unten.
    So weit klang es einfach.
    »Viel Glück«, wünschte ihr Aurora.
    Dann begann sie zu kurbeln, und der Aufzug schob sich mit einem kratzenden Geräusch nach oben. Emily hoffte inständig, dass niemand im Waisenhaus davon geweckt werden würde. Doch Aurora tat ihre Arbeit gewissenhaft und gut. Sie kurbelte gerade so langsam, dass das Geräusch, das die kleinen Rädchen in den rostigen Laufschienen machten, nicht allzu laut wurde. Man würde es für eine Laune des Windes halten, der vom dunklen Fluss herüberwehte und der in manchen wilden Herbstnächten das ganze Haus ächzen ließ.
    Die Dunkelheit und die Enge des Aufzuges machten Emily Angst. Sie hatte die ganze Zeit über die Augen leicht geschlossen, als könne sie so die Schwärze der überaus beengenden Befindlichkeit vertreiben. In ihren Träumen fürchtete sie sich vor der Dunkelheit. Manchmal fragte sie sich, wie es wäre, blind zu sein. Nicht einmal lesen würde sie können. Ein Gedanke, der ihr nun, da sie in dem engen, dunklen Aufzug hockte, erneut in den Sinn kam.
    Nach einer Ewigkeit, wie es schien, erreichte sie die Kammer.
    Schlüpfte vorsichtig nach draußen.
    Streckte die Glieder und sah sich um.
    Die Kammer war verlassen, und nur ein schmaler Lichtstrahl drang durch das Fenster ins Innere. Die Luft roch muffig und abgestanden. Hohe Regale reichten bis an die gewölbte Decke des Raumes, überquellend vor staubigen Aktenordnern. Emily lauschte bangen Herzens auf etwaige Schritte im Treppenhaus. Kein Geräusch war zu hören. Behutsam ging sie auf das erstbeste Regal zu und las die Aufschriften auf den Akten: Aufwendungen und Einnahmen, säuberlich geordnet nach Jahreszahlen. Steuerbescheide. Einkaufsbelege. Mylady Wilhelmina White. Staatliche Zuwendungen. Neuzugänge.
    Emily griff nach dem letzten Aktenordner und öffnete ihn.
    Die Datenblätter waren mit Nummern versehen, doch gab es weder Hinweise auf die Anschriften der Eltern noch auf ihre Namen. Einzig die Zeitpunkte, zu denen die Kinder im Waisenhaus eingeliefert worden waren, hatte der Reverend vermerkt. Zusätzlich gab es auf jedem der Blätter eine Nummer: M-23/98b und so weiter. Vermutlich ein Hinweis auf Informationen, die irgendwo im Haus versteckt und nicht so leicht auffindbar waren, vermutete Emily.
    Gerade ließ sie ihren Blick erneut über die Regalreihen wandern, als ein tiefes Knurren den Raum erfüllte. Das Herz des Mädchens erstarrte vor Schreck, als sie in ein Paar rot glühende Augen blickte, die draußen vor dem Fenster in der Dunkelheit zu schweben schienen. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück und stieß rückwärts gegen den Schreibtisch des Reverends. Ein Stapel Bücher und zusammengerollte Pergamente fielen in sich zusammen und polterten lautstark auf den Dielenboden.
    Emily wusste, dass ihre Tarnung aufgeflogen war.
    »Auch das noch!«
    Jeder im Haus musste von diesem Lärm geweckt worden sein.
    Was sie nicht wusste, war, was das für ein Ding gewesen sein mochte,
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