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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Autoren: Christoph Marzi
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das draußen vor dem Fenster gekauert hatte. Rot glühende Augen, schwarzes Fell, eine lange Schnauze, hochgezogene Lefzen. Sprunghaft kehrten ihre Gedanken zu der Ratte zurück, die sie im Keller getroffen und mit der sie gesprochen hatte. Bevor sie jedoch weitere Mutmaßungen treffen konnte, splitterte das Fensterglas im Stockwerk unter ihr, und die gellenden Schreie von vielen Kindern erfüllten die Nacht. Etwas war in den Schlafraum der Neuzugänge eingedrungen. Das laute Knurren wurde zu einem lang gezogenen Heulen.
    Ohne zu überlegen trat Emily ans Fenster, und was sie da sah, hätte unwirklicher nicht sein können.
    Eine Gestalt beugte sich aus dem Fenster unter ihr.
    Einen großen Rucksack trug sie, der sich bewegte. Etwas zappelte darin, wehrte sich, schrie wie am Spieß. Die langen Krallen des Wesens fanden mühelos Halt in der Mauer, und flink kroch es kopfüber auf allen vieren an der Hauswand hinab, um dann zwei Meter über dem Boden abzuspringen. Es landete sicher auf allen vieren auf dem Kopfsteinpflaster. Als es den Kopf hob, erkannte Emily das Gesicht eines zottigen Wolfes, dessen wilde Augen sie zu mustern schienen. Die Kreatur hielt inne, und dann erhob sie sich, stand aufrecht auf zwei Beinen da und ließ ein schauerliches und siegessicheres Heulen die Nacht zerreißen. Eine Krallenhand deutete hinauf zu dem Fenster, hinter dem Emily bangen Herzens stand, als wolle die Kreatur klarstellen, dass sie Emilys Gesicht nie wieder vergessen und ihr baldigst einen eigenen Besuch abstatten würde. Schließlich drehte die Kreatur dem Waisenhaus den Rücken zu und lief auf allen vieren in den Nebel, der von der Themse aufzog und langsam durch die Gassen und Straßen Rotherhithes kroch.
    Es ist Mara, die sich in dem Sack befindet.
    Emily wusste es.
    Spürte
es.
    Flüsterte: »Was geht hier nur vor?«
    Dann überschlugen sich die Ereignisse.
    Die Tür zur Kammer wurde aufgerissen, und Emily, starr vor Schreck, stand wie am Boden festgenagelt da.
    »Nummer Neun?«, hörte sie nur die wütende und gleichsam verwirrte Stimme des Reverends, der in wehendem Hausmantel vor ihr stand. »Was in aller Nekir Namen hast
du
hier zu suchen?«
    Die Situation war irgendwie unwirklich.
    Im Treppenhaus hinter dem Reverend war Tumult ausgebrochen.
    Mr. Meeks versuchte verzweifelt, für Ruhe zu sorgen, indem er die aufgeregt umherrennenden Kinder anschrie. Der Reverend schien nicht zu verstehen, was genau Emily in der Kammer zu suchen hatte, und noch weniger, wie sie dort hineingekommen war. Er warf einen Blick hinüber zum Fenster, und als er sich vergewissert hatte, dass das Fenster verschlossen war, gewann er seine Fassung zurück.
    »Du«, herrschte er Emily an und betonte seine Worte mit einem auf sie zeigenden, ausgestreckten knochigen Finger, »du rührst dich nicht von der Stelle, du kleine Missgeburt! Wir sprechen uns später.«
    Dann lief er ins Treppenhaus hinaus.
    Emily stand immer noch wie angewurzelt da.
    Die Kinder im Treppenhaus schrien etwas von einem Werwolf, der sich ein Mädchen aus dem Schlafraum der Neuzugänge geschnappt habe. Der Reverend herrschte sie an, es gäbe keine Werwölfe. Und Mr. Meeks versuchte nebenher Mr. Biggles zu beruhigen, der sich mit Buckel und aufgestelltem Haar wütend und verwirrt fauchend am Treppengeländer festgekrallt hatte.
    Das Geschrei der anderen Kinder weckte Emily schließlich aus ihrer Lethargie.
    Zögerlich trat sie aus der Kammer und begutachtete das Durcheinander wild umherlaufender Menschen. Der feiste Dombey junior rannte ratlos umher, und schnell bestätigte sich, wen die seltsame Kreatur entführt hatte.
    Nummer Einunddreißig.
    Die kleine Mara, von der die Ratte gesprochen hatte.
    Der Reverend hatte glücklicherweise keine Zeit, sich um Emily zu kümmern. Und diesen Vorteil musste sie nutzen. Während die Dombeys versuchten, dem Chaos Herr zu werden, verließ Emily die Kammer durch die Tür und rannte die Treppe hinunter, wich dem feisten Dombey junior aus, der sie plump zu packen versuchte, und rannte weiter. Immer nur weiter.
    Ein Stockwerk tiefer warf sie einen kurzen Blick in den Schlafsaal der Neuzugänge. Das Fenster war zerbrochen, und eines der Kinderbettchen, dasjenige mit der Nummer Einunddreißig, war umgestoßen worden. Der Anblick genügte Emily, um sich erneut der seltsamen Begegnung mit der Ratte zu entsinnen. Was war hier nur geschehen? Wer war diese Kreatur gewesen, die im Nebel verschwunden war? Warum hatte die Ratte sie gebeten, auf Mara
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