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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Autoren: Christoph Marzi
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träumten von einem schönen Zuhause und liebenden Eltern und putzigen Haustieren. Dann erwachten sie und sahen die hölzerne Decke des Schlafsaals, hörten den Wind, der von der Themse her wehte und an den Fensterläden zerrte, spürten die Kälte, wie sie nach ihren Füßen griff, und dachten an den nächsten Tag. Die Träume waren alles, was sie an Glück hatten, und in jenen Momenten des Erwachens verloren sie diese Träume jedes Mal aufs Neue. Wieder und wieder. Nacht für Nacht. Jedes Waisenkind kannte dieses Gefühl. Mit der Enttäuschung kamen die Tränen. Mit den Tränen kam irgendwann der Schlaf. Es war ein Kreislauf, der mit dem Eintritt ins Waisenhaus begann und nie endete. Die Träume, die später in der Nacht kamen, waren schlimm: Bilder der Enttäuschung. Melodien aus Eis.
    Jedes der Kinder, das längere Zeit im Waisenhaus verbracht hatte, wusste das.
    Es würde immer so sein.
    Dennoch fügten sich die meisten Kinder in ihr Schicksal und akzeptierten ihr Los. Oh ja, sie träumten natürlich davon, sich gegen die Herrschaft des Reverends aufzulehnen und eine Revolution anzuzetteln. Doch waren dies nichts als Träume. In Wirklichkeit buckelten sie vor dem strafenden Blick des Reverends, zogen die Schultern hoch und senkten den Blick, wenn der betrunkene Mr. Meeks im Treppenhaus herumschrie.
    Emily hingegen hatte einen Plan.
    »Es ist an der Zeit!«
    Das Auftauchen der Ratte hatte sie darin bestärkt, diesen Plan in die Tat umzusetzen.
    »Ich will wissen, wer ich bin«, sagte Emily in dieser Nacht zu ihrer besten Freundin Aurora Fitzrovia, einer Elfjährigen, die man als Kind im Stadtteil gleichen Namens vorgefunden hatte, ausgesetzt vor einem roten Briefkasten und in eine Decke eingeschnürt, die jemand zum Schutz gegen den Herbstregen mit einer grünen Mülltüte umwickelt hatte.
    »Du willst in die Kammer des Reverends einbrechen?« Aurora war in Emilys Bett gekrochen, und heimlich tuschelten sie unter der Bettdecke.
    Schlaflos hatte sich Emily im Bett gewälzt, bis sie sich dazu durchgerungen hatte, ihre Freundin zu wecken.
    Aurora glaubte felsenfest daran, irischer Abstammung zu sein und Tochter eines Postbeamten. Ersteres wegen der grünen Mülltüte, in der man sie gefunden, und Letzteres wegen des roten Briefkastens, vor dem sie gelegen hatte. Selbst die Hinweise auf ihren Lockenkopf und ihre dunkle Hautfarbe brachten sie von dieser Meinung nicht ab.
    Trotz dieser Starrköpfigkeit, die man sehr wohl als irische Eigenheit hätte auslegen können, waren Emily und Aurora einander in einem Maße vertraut, um das sie selbst richtige Schwestern beneidet hätten. Die beiden stritten höchst selten und wenn doch, dann vertrugen sie sich schnell wieder.
    »Das Waisenhaus ist kein Ort, an dem Kinder sich untereinander streiten sollten.«
    Aurora, die Emilys Weisheiten zur Genüge kannte, hatte dem nichts entgegenzusetzen.
    »Ich habe einen Plan«, gestand Emily.
    Oft schon hatten sich die beiden darüber unterhalten, wie es wohl anzustellen sei, an die Informationen zu kommen, die das Rätsel ihrer Herkunft zu lüften vermochten. Beide Mädchen hatten keine klaren Erinnerungen an ihr Leben vor dem Waisenhaus. Manchmal träumten sie: Emily von starken Händen, die sie hochhoben und an eine Brust drückten, die nach Weihnachtsgebäck duftete, von einer gesummten Melodie, die ihr selbst schlafend die Tränen in die Augen trieb, von Regen, der ihr ins Gesicht fiel, und einer riesigen Tür, die sich langsam öffnete und die Stimmen fremder Menschen preisgab, die sie ängstigten; und Aurora von grünen Wiesen und dem lauten Zirpen naher Grillen, vom Lachen einer alten Frau und bunten Briefen, die vom Himmel regneten, von einem Käfer, der ihr den Arm hinaufkroch und sie schreien ließ, bis jemand sie warm in ein Tuch wickelte und sanft schaukelte.
    »Du willst es also wirklich tun?«
    Emily nickte. »Worauf soll ich denn warten?«
    »Wenn der Reverend dich erwischt!«
    »Die Gefahr besteht immer.«
    »Er wird dich Snowhitepink überlassen. Oder Mr. Meeks.«
    »Und wenn er gar nichts bemerkt?«
    Auroras Augen waren zwei Seen in der Dunkelheit des Schlafsaals.
    »Wann können wir es wagen?«
    Nachdem Emily ihr in allen Einzelheiten von dem Plan berichtet hatte, war Aurora nicht mehr abgeneigt.
    »Schon morgen«, flüsterte Emily. »Bist du dabei?«
    Aurora lächelte.
    Zögerlich.
    »Einer muss doch auf dich aufpassen.«
    Emily sah zum Fenster hinaus. Betrachtete die Sterne, die durch die Lücken glitzerten, die
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