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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Autoren: Christoph Marzi
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Kartoffelsack verschwunden. Im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und Mrs. Philbrick betrat den Raum. Mit geübtem Blick stellte sie fest, dass Emily nur tatenlos dastand und nicht arbeitete. Heftige Schelte war die Folge, während der Emily schnell dazu überging, die Arbeit fortzusetzen.
    Was in aller Welt war das eben gewesen?
    Hatte sie sich die Ratte nur eingebildet?
    Hinter dem Kartoffelsack befand sich jedenfalls ein kleines Loch in der Mauer.
    War die Ratte auf diesem Weg geflüchtet?
    Emily spähte hindurch und sah nichts als Leitungen und rostige Rohre, die in der Dunkelheit verschwanden. Müde rieb sie sich die Augen und setzte dann ihr Tagewerk fort.
    Als sie am Nachmittag für eine Stunde nichts zu tun hatte, ging sie hinauf in das Kinderzimmer, wo die Neuzugänge friedlich schliefen, und betrachtete die kleine Mara, die in ihrem Bettchen lag, an dessen Vorderseite ein Schild mit der laufenden Nummerierung hing. Mara war Nummer Einunddreißig.
    Mara Mushroom hatte die Ratte das kleine Kind genannt.
    Was war das nur für ein seltsamer Name? Und weshalb, so überlegte Emily, sollte sie auf das kleine Mädchen achten? Je jünger ein Kind war, umso besser standen doch seine Chancen, von einem kinderlosen Ehepaar adoptiert zu werden. Jedermann mochte süße Babys und niedliche Kleinkinder. Mit zunehmendem Alter schwand die Attraktivität der Kinder für adoptionswillige Ehepaare jedoch zunehmend. An deren Stelle trat dann Madame Snowhitepink mit ihrer Kundschaft. Konnte es Menschen geben, fragte sich Emily, die für die Gesellschaft eines zweijährigen Kindes bezahlen und mit diesem Wunsch an Madame Snowhitepink herantreten würden?
    Sie wusste keine Antwort auf diese Frage.
    Wollte die Antwort auch gar nicht wissen.
    Das Kind in dem Bettchen schlief ruhig. Rotes zerwuseltes Haar hatte die Kleine und Ohren, die spitz aus dem Haar herauslugten. Ein schmales Gesicht, ähnlich dem Emilys. Mit einem Mal musste Emily an das Gesicht einer Frau denken, die streng und herrisch auf sie herniederblickte. In den vergangenen Nächten hatte sie von dieser Frau geträumt, die ein langes pechschwarzes Kleid trug und die ebenso pechschwarzen Haare streng zu einem Zopf nach hinten gebunden hatte. Irgendwie beschlich Emily das Gefühl, als hätte Mara den gleichen Traum wie sie. In eben diesem Moment. Als träume sie von der Frau in Schwarz, von der auch Emily geträumt hatte.
    »Unsinn!«
    Sie strich dem schlafenden Kind zärtlich über die Wangen und gab ihm einen Kuss. Das tat sie normalerweise nie. Man wusste nie, wann die Kinder zur Adoption freigegeben wurden und das Waisenhaus verlassen mussten. Deshalb durfte man sich nicht allzu sehr um sie sorgen.
    Das machte nur Kummer.
    Ihren Gedanken nachhängend, verließ Emily Laing den Schlafsaal der Neuzugänge.
    Vor dem Einschlafen kehrten ihre Gedanken aber dorthin zurück.
    Niemals würde sie Adoptiveltern finden. Und der Reverend würde ihr nicht für alle Zeit Unterkunft gewähren. Was, wenn Madame Snowhitepink doch eine Verwendung für sie in den Sinn käme? Was, wenn sie verrückt würde? Sie erinnerte sich an die Worte der Ratte. Hyronimus. Sie hatte mit einer Ratte gesprochen, die sich ihr als Hyronimus vorgestellt hatte. Vordergründig klang dies wie ein Märchen. Aber verabschiedete sich nicht in Wirklichkeit lediglich ihr kindlicher Verstand? Emily verspürte mit einem Mal eine unbändige Angst, endgültig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Konnte man von verdorbenem Essen verrückt werden? Was bewirkten die Pillen und Tropfen, die der Reverend den kleinen Kindern verabreichte? War ihr Blick auf die Welt ein anderer, weil sie ein Glasauge hatte? Niemand kann verrückte Kinder leiden. Das jedenfalls wusste sie mit Sicherheit. Sie wusste, wie solche Kinder von den anderen gerufen wurden: Spinner, Traumtänzer, Freak oder Schlimmeres. Fest drückte sie sich den Stoffbären ans Gesicht und schloss die Augen. Mit den Träumen hatte es begonnen. Jenen seltsamen Bildern, die sie in der Nacht marterten und schreiend erwachen ließen. Als träume sie die Träume fremder Kinder, so kam es ihr manchmal vor. Erklären konnte sie sich das nicht.
    Und wie die Träume, so kamen auch die Tränen.
    In jeder Nacht.
    Heiß. Brennend.
    Sie sagte sich oft vor, dass auf diese Weise alle schlimmen Erinnerungen an den vergangenen Tag aus ihrem Kopf geschwemmt würden. Viele der Kinder im Schlafsaal weinten des Nachts, die meisten heimlich unter der Bettdecke. Sie
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