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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Autoren: Christoph Marzi
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Mängelexemplare von den städtischen Bibliotheken erworben hatte, vorbeigebracht wurden. In diesen kostbaren Momenten versank sie ganz in den Welten, die sich zwischen den gedruckten Zeilen auftaten. Sie fühlte sich vielen der Gestalten verbunden: Little Nell Trent, David Copperfield, Holden Caulfield, Beverly Rogan, Jack Sawyer und Homer Wells. Sie litt mit ihnen, bis die laute Stimme von Mrs. Philbrick sie aus ihren Gedanken riss und sie in die wirkliche Welt des Waisenhauses zurückkehren musste.
    Mit zwölf Jahren, so schien es, hatte das Waisenhaus bereits das Leben der kleinen Emily Laing aufgesogen. Nach dem Verlust ihres Auges waren die Stunden zu Tagen und die Wochen und Monate zu Jahren geworden, ohne dass Emily sich dessen richtig bewusst gewesen wäre. Sie lebte vor sich hin, tat ihre Arbeit, versuchte nicht aufzufallen und hoffte darauf, dass irgendwann ein Ehepaar im Waisenhaus auftauchte und sich für sie entschied.
    Es musste in der Welt da draußen doch jemanden geben, der eine Missgeburt, wie sie es angeblich war, mochte. Der vierzehnjährige Charles hatte immerhin einen Klumpfuß, und niemand verdiente beim Betteln in Whitehall und Westminster so viel wie er. Irgendjemandes Herz würde sich doch bestimmt erweichen lassen, hoffte sie inständig.
    Vergebens.
    Stattdessen gewahrte Emily an einem kalten Wintermorgen eine Ratte.
    Die zu ihr sprach.
    Einfach so.
    Glücklicherweise befand sich Mrs. Philbrick an diesem Morgen noch nicht in der Küche, denn Ratten waren ihr nicht gerade willkommene Gäste.
    Emily hatte gerade einen Topf voller Wasser auf den Gasherd gestellt, das Streichholz griffbereit, als sie das kleine Tier bemerkte.
    Miss Emily Laing
, sagte die Ratte, deren dunkle Äuglein wach funkelten.
Bitte haben Sie keine Furcht. Ich komme in einer Angelegenheit von größter Wichtigkeit zu Ihnen.
    Ich sollte an dieser Stelle klarstellen, dass es sich hier keinesfalls um eine Halluzination handelte, wenngleich Emily diesbezüglich Zweifel hegte. Es war tatsächlich eine Ratte, die da auf den Kartoffelsäcken hockte. Natürlich sprach sie nicht in jenen Worten, die den Menschen normalerweise geläufig sind. Sie bewegte nicht die dunkle Schnauze, sodass die langen Barthaare lebhaft vibrierten. Auch stand sie nicht aufrecht da.
    Emily Laing sah sich einer Ratte mit grauem glänzenden Fell gegenüber, die sich auch wie eine Ratte verhielt.
    Sie piepste.
    Mit der Ausnahme, dass Emily verstand, was da gepiepst wurde. Für sie ergaben die Laute einen Sinn, die das Tier von sich gab.
    Wir benötigen Ihre Hilfe
, sagte die Ratte in ihrer Sprache.
    Muss man erwähnen, wie sehr Emily erschrak?
    Hätte sie den Topf mit Wasser nicht bereits am Herd abgestellt, so wäre ihr sicherlich ein Missgeschick passiert. Ohne zu überlegen, griff sie nach einem langen Küchenmesser und einem großen Holzbrett. Beides hielt sie schützend vor sich und ließ die Ratte nicht aus den Augen.
    Es ist wichtig, dass Sie mir genau zuhören
, fuhr die Ratte fort.
    Emilys nächster Blick galt ängstlich der Tür.
    Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war Mrs. Philbrick, die in ihrem morgendlichen Eifer in den Raum gestürmt kam.
    »Wenn du mich beißt, kleines Wesen«, drohte sie mutig, »dann wirst du es bereuen.«
    Sie erschrak sogar beim Klang ihrer eigenen Stimme und zudem angesichts der Tatsache, dass sie mit einem Nager redete.
    Nennen Sie mich Hyronimus
, erklärte die Ratte,
wenn Sie möchten. Aber das tut nichts zur Sache. Es gibt ein Kind in diesem Haus, das auf den Namen Mara hört. Mara Mushroom.
    Mara, das wusste Emily, war eine der Neuzugänge.
    Seit etwa drei Monaten war sie ein Waisenkind von Rotherhithe und gerade einmal zwei Jahre alt. Ein Taxi hatte sie aus Holborn hergebracht. Wie immer hatten die anderen Kinder die Ankunft des Neuzugangs von ihren Fenstern hoch oben in den Schlafräumen beobachtet. Denn mit jedem neuen Kind, das klein und süß und niedlich war, verringerten sich die Chancen der anderen, jemals eine Familie zu finden.
    »Weshalb kann ich dich verstehen?«, flüsterte Emily.
    Eine bessere Frage fiel ihr in diesem Augenblick nicht ein.
    Warum sollten Sie das nicht können?
, stellte die Ratte überrascht die Gegenfrage. Sie drehte den Kopf in Richtung der Tür und schnüffelte in die Luft. Ihre Barthaare stellten sich hoch. Schritte waren zu hören.
Haben Sie ein Auge auf das Mädchen, das Mara heißt
, piepste sie, und ehe sich Emily versah, war sie auch schon flink hinter dem
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