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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne
Autoren: Friedrich Ani
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zu viert nebeneinander am Tisch, die beiden Mädchen in der Mitte. Sie verfolgten einen Beitrag im Regionalsender. Schon wieder, sagte eine Sprecherin, fehle von einem Jungen aus Süddeutschland jede Spur: Conrad, sechzehn Jahre alt.
    Die Jugendlichen zeigten keine Reaktion.
    Sophia und Maren hielten sich an den Händen. Insgesamt, fuhr die Sprecherin fort, seien damit innerhalb eines Jahres neun Kinder und Jugendliche aus dem süddeutschen Raum auf mysteriöse Weise verschwunden. Bis heute habe die Polizei keinerlei Hinweise auf ihren Aufenthaltsort und die Umstände ihres Verschwindens.
    Die Kamera zeigte neun Fotos. Als sie ihr eigenes sah, hob Maren den Arm und winkte mit ausdrucksloser Miene zum Fernseher.
    »Jedes Jahr«, sagte eine Reporterin, »verschwinden etwa einhunderttausend Menschen in Deutschland. Auch wenn die meisten von ihnen nach kurzer Zeit zurückkehren, löst ihre Abwesenheit oft Panik, Angst und Verzweiflung in den Familien aus, erst recht, wenn es sich um ein Kind handelt. Zurzeit gelten in Deutschland fünfhundertzwanzig Kinder bis dreizehn Jahren als unauffindbar. Obwohl die Polizei in den Fällen der verschwundenen dreizehnjährigen Maren und des elfjährigen Eike sogar mit Kameras und Radarwagen im Einsatz war, um alle Fahrzeuge zu blitzen, die in den Wohngegenden der beiden Kinder unterwegs waren, fand sie keine Spur. Eine auf inzwischen vierzig Mitglieder aufgestockte Sonderkommission des Landeskriminalamtes arbeitet Tag und Nacht Hinweise aus der Bevölkerung ab. In vielen Landkreisen haben Eltern Fahrgemeinschaften gegründet, um ihre Kinder sicher zur Schule und wieder nach Hause zu bringen. An manchen Schulen und Kindergärten patrouillieren Wachdienste. Ob hinter den Vermisstenfällen womöglich ein internationaler Menschenhändlerring steckt, wollte die Kripo bisher nicht bestätigen. Ein Sprecher erklärte, man ermittle in alle Richtungen.«
    Dem Bericht über das Wetter hörten die Jugendlichen nicht mehr zu.
    Conrad schaltete den Fernseher aus. Sie starrten auf den dunklen Bildschirm.
    Wahrscheinlich, dachte Leon, hatte das Fernsehen schon öfter über ihn und die anderen berichtet, aber sie hatten die Sendungen bisher immer verpasst.
    Conrad wollte etwas sagen. Vor Schreck brachte er keinen Ton heraus. Plötzlich raste ein Gedanke durch seinen Kopf:
    Wenn sie fernsehen durften und ihre Fotos sahen und mitkriegten, dass die Polizei in ganz Deutschland nach ihnen suchte, dann würden sie sich doch nicht mehr einschüchtern lassen! Sondern alles daran setzen, sich bemerkbar zu machen, irgendein Zeichen nach draußen zu senden.
    Doch das schien den beiden Männern und der Frau oben egal zu sein.
    Und das bedeutete, dachte Conrad und warf Leon, der angefangen hatte, lautlos zu weinen, einen Blick zu, dass sie sterben würden. Dass es keine Hoffnung gab. Dass sie ruhig wissen durften, was draußen passierte, weil sie nie wieder dorthin zurückkehren würden.
    Der Fernseher ist unser Fenster zum Tod, dachte Conrad.
    Nie zuvor war ihm die Situation, in der sie sich befanden, so klar gewesen. Nach einer Woche hatte er endlich alles begriffen. Ihm war schlecht.
    Er sprang auf, rannte ins Bad und schlug die Tür hinter sich zu. Er würgte über dem Waschbecken, erbrach sich aber nicht.
    Als er ins Zimmer zurückkam, war es totenstill. Da fiel ihm auf, dass Eike seinen Kopf unter der Decke hervorgestreckt hatte und aus Augen, die Conrad noch nie so riesig und schwarz erschienen waren, ins Leere starrte. Eikes Gesicht war rot und nass.
    Dann stand Sophia auf. Sie ließ Marens Hand los und kam um den Tisch herum. Ohne jemanden anzusehen, stellte sie sich mit hängenden Schultern in die Mitte des Raumes.
    »Kann mich mal jemand umarmen, bitte?«, sagte sie.

3
    Sie kamen herein, einer nach dem anderen, angezogen wie junge Sportler. Sie drehten ein paar Mal den Kopf mit dem Jutesack darüber, befolgten den Befehl des Mannes, der sie hergebracht hatte. Sie knieten sich auf die Matratze, Gesicht zur Wand, und warteten ab. Der Mann zog ihnen den Sack vom Kopf, ging nach draußen, verriegelte die Eisentür.
    Wer schon da war, hatte die Augen geschlossen und keinen Mucks gemacht.
    Leon war als Erster da gewesen, ihm folgte Maren. Zwei Monate später wurde Sophia gebracht, kurz darauf Eike und zuletzt Conrad. Ihre Namen verschwiegen sie einander zunächst. Als müssten sie ein Geheimnis preisgeben und würden sich verraten oder gegen ein Gebot verstoßen.
    Conrad war der Einzige gewesen, der seinen
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