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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne
Autoren: Friedrich Ani
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Hunger?«
    »Nein.«
    »Ich schon.« Sie sah zur Anrichte, auf der zwei Plastikflaschen mit Wasser, drei Flaschen Limonade und drei Gläser standen.
    »Sag doch was.« Leon brauchte ihre Stimme.
    »Mag nicht mehr.«
    »Bitte. Bitte.«
    »Was ist los mit dir?« Sophia hörte nicht auf, ihn anzusehen.
    Dafür, dass er keine Antwort wusste oder herausbrachte, hätte er am liebsten seinen Kopf auf den Tisch geschlagen, mit voller Wucht, wie der Mann, der ihn in der öffentlichen Toilette gepackt und gegen die Wand geschleudert und dann entführt hatte. Genauso.
    Er saß bloß da und schämte sich.
    Tränen liefen ihm über die Wangen, er hatte nicht einmal die Kraft, sie abzuwischen. Unentwegt sah er das Mädchen gegenüber an, ihr rundes, helles, unversehrtes Gesicht. Und er hörte sein Herz schlagen und glaubte, es wollte ihn sprengen. Andauernd tauchte das Bild seiner Mutter vor ihm auf. Auch dafür schämte er sich, obwohl er sie maßlos vermisste. Aber jetzt war ja Sophia da. Er konnte sie berühren, wenn er die Arme ausstreckte. Warum tat er es nicht? Er schaute nur, und alles war verschwommen.
    Schließlich wischte er sich die Augen ab, wie immer, stützte den Kopf in beide Hände und presste die Lippen aufeinander. Bin jetzt stark, dachte er.
    »Kennst du die Bibel?« Sophias Stimme machte ihn sofort noch stärker. Er schüttelte den Kopf.
    Natürlich wusste er, dass Jesus gekreuzigt und an Heiligabend geboren worden und später in den Himmel aufgefahren war. Das wusste jeder. Wenn er sich jedoch verriet, dachte Leon, würde Sophia womöglich aufhören zu reden, und das durfte nicht passieren.
    Er wartete ab, den Kopf einige Zentimeter vom Arm entfernt.
    Beim ersten Wort ließ er den Kopf wieder sinken und schloss die Augen. So war das, als er klein war und seine Mutter ihm zum Einschlafen aus dem Märchenbuch vorlas.
    »Am Anfang schuf der liebe Gott den Himmel und die Erde.«
    Sophia warf ihm einen langen Blick zu, den er nicht sah. Schon die ganze Zeit, seit ihrer Ankunft, stellte sie sich vor, der Kleine wäre ihr Bruder, ihr Verbündeter. Und sosehr sie ihn auch früher gequält und verarscht hätte, in diesem Keller würde er zu ihr stehen und sie nicht im Stich lassen, niemals.
    Sophia hatte solche Angst vor dem Tod.
    Dass sie überhaupt noch am Leben war, kam ihr wie ein Wunder vor. Eigentlich wollte sie nicht mehr leben. Angst zu sterben hatte sie trotzdem.
    Im Lieferwagen, in dem sie geknebelt und gefesselt gelegen hatte, hatte es nach Benzin gerochen. Während der Fahrt hatte sie nur den einen Gedanken, vergewaltigt und anschließend verbrannt zu werden. Damit nichts von ihr übrig blieb und niemand sie identifizieren konnte. Zu ihrem Erstaunen kam alles anders. Wobei es kein Staunen war, das sie empfand, sondern eine erschöpfte Art von Verwunderung.
    Die beiden Männer trugen sie aus dem Wagen – wo sie sich befand, wusste sie nicht, sie bildete sich ein, Kräuter und ein wenig Meer zu riechen – und legten sie in ein Bett. Sie nahmen ihr die Fesseln ab und das Tuch vom Mund. Das Tuch über ihren Augen ließen sie dran. Sie befahlen ihr, sich auf den Bauch zu legen und sich auszuziehen, ohne sich umzudrehen. Das tat sie. Danach nahmen sie ihr die Augenbinde ab. Einer der Männer sagte, wenn sie etwas von dem erzähle, was in diesem Raum vor sich gehe, würde sie erdrosselt und vergraben werden.
    Wem, dachte sie in diesem Moment, sollte sie denn etwas erzählen?
    Das Bett war auf allen vier Seiten vergittert. Einer der Männer sagte, sie solle sich umdrehen und alles tun, was man von ihr verlangte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Raum offenbar beheizt wurde. Sie schwitzte. Vor dem Bett stand ein Mann mit einer Mütze und einer dunklen Brille. Er trug eine schwarze Hose und einen schwarzen Rollkragenpullover und hielt eine kleine Kamera vor dem Gesicht. Über dem Bett brannten zwei helle Glühbirnen. Ihre Kleider waren verschwunden, vermutlich hatte der zweite Mann sie mitgenommen.
    Der Mann mit der Kamera befahl ihr, nur ihn anzusehen, dann würde ihr nichts geschehen. Er gab ihr Anweisungen und sie befolgte sie. Wenn sie zögerte, etwas Bestimmtes zu tun, drohte er ihr mit Schlägen. Dann machte sie weiter. Am Ende, zwei oder drei Stunden später, brach sie in ein heftiges Weinen aus.
    Sie hörte schlagartig damit auf, als ihr jemand einen Jutesack über den Kopf stülpte.
    In dieser Sekunde kehrte die Angst zurück.
    Doch sie wurde nicht erdrosselt.
    Einer der Männer befahl ihr, sich eine
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