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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne
Autoren: Friedrich Ani
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Fische und die Landtiere untertan machen. Und dann gab er ihnen die Pflanzen und Bäume, damit sie was zu essen haben. Nicht nur die Menschen, auch die Tiere dürfen sich von den Bäumen und Pflanzen und Früchten ernähren, alle Lebewesen unter dem Himmelszelt. Und so war es gut. Abend und Morgen, und das war der sechste Tag. Am nächsten Tag schlief Gott vor Erschöpfung aus.«
    Leon kicherte, aber nur tief drinnen, weil er sich genierte.
    »Und Gott«, sagte Sophia und sah Leon so fest in die Augen, dass er die Luft anhielt, »segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig, weil er geruht und sein großes Werk vollendet hatte. So sind Himmel und Erde entstanden und die Menschen und Tiere und die Zeit.«
    Leon rang nach Luft. Diesen Sonntagnachmittag im Juni würde er niemals vergessen.
    Sophia stand auf und ging zur Anrichte, schraubte die Flasche mit dem Orangensaft auf, trank einen Schluck. Sie behielt die Flasche in der Hand. Als Leon sich zu ihr umdrehte, hielt sie ihm die Flasche hin. Er schüttelte den Kopf.
    »Woher weißt du das alles so genau?«, fragte er.
    »Ich bin Ministrantin. Und manchmal darf ich beim Gottesdienst aus der Bibel vorlesen.«
    »Weil du so eine gute Stimme hast.«
    Sophia schraubte die Flasche zu und stellte sie wieder hin. »Wollen wir beten?«
    Die Frage verwirrte Leon. Er wusste nicht, was er antworten sollte.
    »Für Maren.« Sophia ging zu ihm und blieb neben ihm stehen. Sie roch nach Seife, das bildete er sich bestimmt nicht ein. »Ein Vaterunser.«
    Plötzlich kam die Angst zu Leon zurück. Die ganze Zeit über, während Sophia von der Erschaffung der Erde und der Menschen erzählt hatte, war sie weg gewesen, er hatte schon fast nicht mehr an sie gedacht. Und jetzt kroch sie seinen Rachen runter bis in den Bauch und in seine Beine, und er fing an zu zittern. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er krümmte sich und schämte sich bis ans Ende der Welt.
    Eine Minute lang bemerkte er nicht, dass Sophia die Arme um ihn schlang. Sie kniete neben ihm und hielt ihn fest umklammert. Als er es wahrnahm, stellte er sich vor, wie schön es wäre, genau jetzt zu sterben.
    Da hörten sie Schritte und das vertraute Klirren des Schlüsselbundes.
    Erschrocken ließ Sophia den Jungen los. Sie sprangen gleichzeitig auf und knieten sich vor die Wand und schlossen die Augen.
    Die Eisentür wurde geöffnet. Sie hörten Marens schnelle, heisere Atemzüge. Dann sagte der Mann: »In der Bibel lesen ist nie verkehrt.«
    Kurz darauf fiel die Eisentür ins Schloss und die Schritte im Kellerflur verstummten.
    Obwohl die Tür aus Eisen war, befand sich am oberen Rand – das hatte Leon am ersten Tag entdeckt – ein winziger Spalt, so, als hätte die Tür nicht in den alten Rahmen gepasst.
    Bevor Sophia und Leon sich umdrehten, war Maren schon ins Bad gelaufen und hatte die Tür geschlossen. Sie würgte und übergab sich in die Toilettenschüssel. Die beiden hörten, wie sie sich das Gesicht wusch und immer wieder ausspuckte.
    Dann war es still.
    Sophia strich Leon über die Wange und sagte kein Wort. Er zuckte mit den Händen. Im letzten Moment hielt er inne. Beinah hätte er Sophia umarmt.

4
    Immer, wenn der erste Schnee fiel, stand sie am Fenster und drückte sich die Nase platt. Sie schnupperte am kalten Glas und ihre Blicke huschten zwischen den Flocken umher. Es kam ihr dann vor, als begänne eine neue, wundersame Zeit, in der ihr Leben sich veränderte und alle Menschen schönere Gesichter bekämen. Für Maren waren die ersten Schneeflocken des Jahres Boten einer verheißungsvollen Welt.
    Im wirklichen Leben ging Maren aufs Gymnasium und wusste nicht, wozu. In keinem Fach schrieb sie bessere Noten als eine Vier. Fächer wie Physik und Chemie blieben ihr völlig unverständlich. Sie zwang sich, Lehrbücher seitenweise auswendig zu lernen, um keine Fünf oder Sechs zu kassieren und womöglich die Klasse wiederholen zu müssen. Das war ihre schlimmste Vorstellung.
    Ihre zweitschlimmste Vorstellung war, dass ihre beste Freundin Annabel nie wieder aus dem Koma erwachte.
    Vor acht Wochen war Annabel auf dem Heimweg von der Schule von einem Auto angefahren und schwer verletzt worden. Der Fahrer, so berichteten später die Ärzte, hatte wegen Unterzuckerung das Bewusstsein verloren. Nachdem der Wagen das Mädchen zu Boden geschleudert hatte, prallte er gegen eine Hausmauer. Der einunddreißigjährige Fahrer starb auf dem Weg ins Krankenhaus.
    In Marens Klasse waren zwei Jungen, Zwillinge, die
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