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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne
Autoren: Friedrich Ani
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Namen von sich aus gesagt hatte. Maren und Leon hatten sich wochenlang immer nur angesehen und kaum ein Wort gesprochen. Einmal hatte Maren geflüstert: »G-grüß d-dich.«
    Ihre Stimme hatte Leon so erschreckt, dass er sich eine Stunde lang in die Ecke neben der Eisentür stellte, mit dem Gesicht zur Wand. Am nächsten Tag jedoch schämte er sich für sein Verhalten und fing an, aus seinem Leben zu erzählen, so, wie er es in den folgenden Wochen noch öfter tun würde, gegenüber den Neuankömmlingen. Alle hörten ihm immer zu. Und wenn er eine Weile geredet hatte, breitete sich, wie er bald feststellte, eine eigenartige Wärme in ihm aus, die ihn ruhiger werden und weniger weinen ließ.
    Manchmal weinte er und wusste nicht, wieso.
    Ihm war so vieles peinlich, eigentlich alles, was er tat und dachte. Und seine ewige Angst und seine Stimme, die ihm vorkam wie die eines Mädchens. Deswegen mochte er Sophia vom ersten Satz an. Ihre Stimme klang hart und klar und nicht so knubbelig wie seine eigene. Leider sagte Sophia anfangs immer nur kurze Sätze, und man musste aufpassen, dass man keinen verpasste.
    Den ersten Nachmittag mit ihr würde er niemals vergessen.
    Ein Sonntag im Juni, und er wusste genau, dass draußen die Sonne schien, auch wenn er es nicht beweisen konnte.
    Maren war nicht da. Sie war oben.
    Er saß am Tisch an der linken Schmalseite, Sophia an der rechten Schmalseite. Er glaubte, Sophia käme immer näher, je länger sie sich ansahen.
    Sie sahen sich mindestens fünfzig Minuten lang an, wortlos, beinah reglos, die Hände auf dem Tisch, nach vorn gebeugt, beide.
    Sophia trug ein blaues Sweatshirt, Leon ein gelbes. Die Farben würden sich nicht mehr ändern. Leon und Maren hatten das schon begriffen, Sophia noch nicht, sie war erst fünf Tage da. Keiner wusste, wie Sophia hieß, und sie wusste nicht, wie die beiden anderen hießen. Wozu auch?, dachte Leon, sie würden sowieso bald sterben.
    Und dasselbe dachte er wieder, als er Sophia fünfzig Minuten lang in die grünen Augen schaute.
    Plötzlich sagte sie: »Die trauen sich was.«
    Ihre Stimme klang dermaßen deutlich, dass Leon zusammenzuckte. Sein Körper bebte. Nach einer Weile sackte er in sich zusammen, legte die Arme auf den Tisch und seinen Kopf darauf, die linke Wange auf dem linken Unterarm. Der Ärmel seines Sweatshirts war hochgerutscht, die Haut glänzte weiß wie Schnee. Und sie war kalt, aber das konnte Sophia nicht wissen.
    Als Leon erschrak, hatte sie eine halbe Sekunde lang gelächelt. Er hatte es nicht bemerkt.
    »Was?«, fragte er. Ungeduldig wartete er auf ihre Stimme.
    »Die kidnappen uns einfach.«
    Weil er so gebannt in die Stille und auf ihren nächsten Satz lauschte, fiel ihm nicht auf, dass sie auf eine Reaktion von ihm wartete.
    »Sag was.«
    »Was?« Verdutzt kniff er die Augen zusammen und hob den Kopf.
    »Von wo bist du?«, fragte sie.
    Unwillkürlich blickte er zu der Kamera über der Tür. Dann verschränkte er die Arme auf dem Tisch und senkte den Kopf. »Das darf ich nicht sagen.«
    »Darfst du schon.«
    »Nein. Du darfst auch nicht sagen, woher du bist. Wir dürfen nichts sagen, was mit uns zu tun hat, sonst bringen sie uns um.«
    »Die brauchen uns doch noch.«
    Der Satz erschreckte ihn noch mehr als ihr erster vorhin. Er sah sie an, so ratlos wie fasziniert, und sein Blut, das voller Angst war, hinterließ in seinem Herzen winzige Funken, die er jedes Mal spürte, wenn Sophias grüner Blick ihn traf.
    Sein Mund stand offen, er keuchte und hörte es nicht.
    »Hast du Schmerzen?«
    »Was hab ich?«
    »Wir sterben schon nicht.«
    »Nein«, sagte er. Das Wort kam von selber aus seinem Mund.
    »Genau. Wie alt bist du? Zehn?«
    »Zwölf.«
    »Wie alt bin ich, was schätzt du?«
    Er schüttelte den Kopf. Das passierte einfach so.
    »Ich bin vierzehn«, sagte sie. »Wieso schüttelst du den Kopf?«
    Abrupt hörte er damit auf. Er wollte etwas sagen, fand aber nicht die passenden Worte. Auch wäre er gern aufgestanden und hätte sich neben sie gesetzt. Allein der Wunsch tat ihm weh. Er traute sich nicht und hatte keine Ahnung, wieso. Wenn sie rüberkäme und sich neben ihn setzen würde, wäre er gerettet, dachte er.
    »Gerettet«, sagte er laut und schunkelte mit dem Kopf, was er manchmal unbewusst tat.
    »Was machst du da?«
    »Nichts.« Er schunkelte weiter. Dann sah er ihren Blick und verharrte. »Was ist?«
    »Wie lang bist du schon hier?«
    »Lang.«
    »Hast du Geschwister?«
    »Nein.«
    »Ich auch nicht. Hast du
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