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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne
Autoren: Friedrich Ani
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Körper. »I-ich a-auch. U-und verm-vermisst d-du i-irgendwas?«
    »Weiß nicht.« Sophia vergrub die Hände in den Taschen ihrer Wolljacke. »Mein Leben vielleicht, das von früher.«
    »V-vielleicht k-kriegst d-du ein n-neues.«
    »Von wem denn?«
    »V-vom l-lieben G-Gott.«
    »Glaub ich nicht.«
    »G-glauben ist a-aber w-wichtig, h-hat N-Noah i-immer ge-gesagt.«
    »Lass uns ein wenig schlafen, Maren.«
    »A-aber t-träumen w-will ich n-nichts.«
    »Ich weck dich auf, wenn du was Schlimmes träumst.«
    »V-versprochen?«
    »Ja.«
    »Sch-schon w-wieder M-Matratzen!«
    »Schlaf, Maren, schlaf.«
    Maren schloss die Augen und dachte an ihre Freundin Annabel, die bestimmt noch ein neues Leben vor sich hatte.
    Als Maren still und friedvoll atmete, stand Sophia leise auf und ging zum Fenster, dessen Glas grau und schmierig war. Verschwommene Lichter schimmerten dahinter.
    Sophia sah hinunter und wandte sich wieder ab. Aus dem zweiten Stock zu springen, würde nichts nutzen, dachte sie.
    Bevor sie in das gelbe Haus mit der abbröckelnden Fassade und den eingeschlagenen Fenstern im Erdgeschoss zurückkehrten, musste Leon zur Telefonzelle an der Ecke mitkommen. Eike, der vor Erschöpfung kaum noch aufrecht gehen konnte, hatte ihn dazu gezwungen. Leon schleppte zwei Plastiktüten mit Brot, abgepackter Wurst, Müsliriegel und fünf fetten Flaschen Cola. Seine Arme leierten schon aus, und er zuckte jedes Mal zusammen, wenn irgendwo in der Nacht ein Hund bellte.
    Die drei Jugendlichen, die sie zum Supermarkt geführt hatten, waren nicht mit zurückgekommen, sie hätten, erklärten sie, noch was Dringendes zu erledigen und würden eventuell zum Frühstück vorbeischauen.
    »Halt die Tür auf«, sagte Eike. »Hier drin stinkt’s.« Der Boden der Telefonzelle war übersät von Taschentüchern und Essensabfällen. Eike kramte ein Geldstück aus der Hose, nahm den Hörer, steckte die Münze in den Apparat und tippte eine Nummer.
    Eine Straßenlampe baumelte schräg über der Zelle im Wind. Leon sah hinauf und kniff die Augen zusammen.
    Leichter Regen hatte eingesetzt. Leon hätte gern den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen, aber er musste die Tüten festhalten.
    »Wer ist da?«, fragte eine Stimme am anderen Ende der Leitung.
    »Hallo?« Eike sah Leon so eindringlich an, als spreche er mit ihm.
    »Wer ist da?«
    Eike schien durch Leon hindurchzuschauen.
    »Du kannst mich mal«, sagte die Stimme im Telefon.
    »Hallo?« Eike hielt den Hörer ans andere Ohr. »Bist du’s, Linus?«
    »Wer ist da?«, brüllte die Stimme.
    Nach einem Moment schrie Eike: »Icke!« Dann knallte er den Hörer auf und schob sich an Leon vorbei nach draußen. »Los, komm. Die Mädchen warten schon.«
    Im Treppenhaus, in dem es ungefähr so roch wie in der Telefonzelle, dachte Leon an seine Mutter. Was sie sagen würde, wenn er plötzlich vor ihr stünde. Vielleicht: Was ist mit deinen Haaren passiert? Oder: Wenn ich meine Stimme nicht verloren hätt, könnt ich uns ein angenehmeres Leben bieten. Und er würde sagen: Vielleicht kommt deine Stimme wieder, ich bin ja auch wieder da. Und dann würde sie ihn an sich drücken wie in der schönen Zeit. Und er würde sagen: Ich helf dir beim Putzen. Und sie: Nein, du bist doch noch ein Kind. Und er würde ihr den Lumpen aus der Hand nehmen und erwidern: Meine Kindheit ist doch eh vorbei. Oder er würde ihr einfach was vorsingen, weil er anders nicht sprechen konnte.
    So würde es vielleicht sein, dachte Leon. Er stellte die Tüten ab, schüttelte seine Arme aus und ging zum großen Fenster zu den anderen.
    »Sch-schau, L-Leon«, sagte Maren. Trotz der Schmutzschlieren und des Staubs und des verwaschenen Lichts auf der Straße sahen sie die weißen, flatternden Punkte, und es wurden immer mehr.
    Maren lehnte die Stirn an die Scheibe und dachte, dass die ersten Schneeflocken des Jahres für sie seit jeher Boten aus einer besseren Welt gewesen waren. Jetzt wusste sie nicht, ob das noch stimmte.
    Sie griff nach Sophias und Conrads Hand, die neben ihr standen. Mit der anderen Hand tastete Sophia nach Leons knochigen Fingern, und Leon umfasste Eikes Handgelenk, der sich neben ihn gestellt hatte.
    So verharrten sie am Fenster dieser Wohnung, die für sie so wenig ein Zuhause war wie das ganze Land.
    Leon dachte an Noah, dessen Leiche wahrscheinlich niemals gefunden würde. Eike strich in seiner Jackentasche über das kühle Metall der Pistole. Conrad rechnete aus, dass sie mit den etwa eintausend Euros, die sie noch
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