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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne
Autoren: Friedrich Ani
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sein, seit sie die Sachen zum letzten Mal getragen hatten.
    Niemand sprach.
    Zweimal warf Conrad einen Blick ins Wohnzimmer, flüchtig. Ihm genügte es, festzustellen, dass die Frau noch am Boden lag. Wo sich der zweite Mann aufhielt, wagte keiner zu fragen. Wenn Maren wieder einmal zur Treppe blickte, zupfte Sophia sie am Ärmel, und Maren wandte sich ab.
    Nach einem ewigen Schweigen sagte Leon: »Können wir endlich gehen?«
    »Auf was wartet ihr noch?«
    Eike hielt sich den Bauch. Es sah aus, als würde er in Ohnmacht fallen. Maren wollte etwas zu ihm sagen, dann lief sie in die Küche.
    »Ich geh oben nachsehen«, sagte Conrad.
»Bleib da«, sagte Leon. »Lass uns endlich hier raus.«
    Conrad dachte einen Moment nach und machte sich dann auf den Weg zur Treppe.
    »Ich komm mit«, sagte Sophia. Mit grimmiger Miene hob Conrad den Zeigefinger und sie blieb stehen. Conrad ging die Treppe hinauf.
    »Das ist doch voll blöde, was er da macht«, sagte Leon.
    Eike trat von einem Fuß auf den anderen und schien nichts wahrzunehmen, während Sophia trotz Conrads Drohung einen Schritt auf die Treppe zu machte und horchte.
    Maren kam aus der Küche zurück. Sie brachte eine angebrochene Schachtel mit Keksen und ein kleines blaues Buch mit. Eike riss ihr die Packung aus der Hand und stopfte sich einen Keks nach dem anderen in den Mund.
    »Gib mal her.« Leon nahm Maren das blaue Buch aus der Hand.
    »St-stopp«, sagte sie und fuchtelte mit den Armen und wusste nicht recht, wohin mit ihren plötzlich leeren Händen. Sie hörte das hastige Knacken aus Eikes Mund und hatte Sorge, er würde sich verschlucken. Dann stachelte ein Gedanke ihr Herz auf.
    Sie war frei. Sie alle waren dem Keller entronnen. Sie waren am Leben! »W-wir s-sind am L-Leben«, rief sie.
    Eike verschluckte sich fast. Sophia zuckte an der Treppe zusammen und legte mit strengem Blick den Zeigefinger auf ihre Lippen.
    Nur Leon blätterte ungerührt in dem Buch, das vor allem aus einem Verzeichnis von Geschäften, Institutionen, Betrieben und Hotels bestand. In der Mitte entdeckte er eine Landkarte. Und als würde nichts sonst vor sich gehen und die Zeit keine Rolle spielen, stellte Leon sich neben Maren und erklärte ihr die Welt.
    »Wir sind hier«, sagte er. »Auf Vohrland. Siehst du? Da ist der Strand, da ist das Meer. Und hier …« Er deutete auf ein rotes Rechteck, von dem schwarze Striche wegführten. »… ist der Bahnhof. Lies, was da steht.« Er wartete nicht, bis Maren den Kopf vorstreckte. »Autoreisezug. Da müssen wir hin. In Seilheim, das ist wahrscheinlich die Hauptstadt von der Insel Vohrland. Da geht’s nach Berup, Arnum, Gerbstedt und …«
    »U-und w-wo sind w-wir j-jetzt?«
    »Woher soll ich das wissen?«
    »U-und w-wie k-kommen wir d-dann n-nach S-Salzheim?«
    »Seilheim.«
    »Könnt ihr endlich die Klappe halten, verflucht«, sagte Sophia mit gepresster Stimme.
    Eike ließ die leere Kekspackung fallen und schmatzte und leckte sich die Lippen. An der Biegung der Treppe tauchte Conrad auf. Er schüttelte den Kopf und stieg wortlos die Stufen hinunter. Sophia sah ihn eindringlich an, weil sie eine Erklärung erwartete. Doch er ging an ihr vorbei zur Garderobe. Auch die anderen sahen ihn an und ein Teil ihrer alten Angst kehrte zurück.
    Conrad war oben gewesen und sie hatten ihn allein gehen lassen. Er redete nicht. Sein graues Hemd hing ihm aus der Jeans, es war zerrissen und fleckig. Conrad sah aus wie ein alter Mann.
    Wir sind alle alt, dachte Leon, alte Männer, alte Frauen, niemand wird uns wiedererkennen. Außerdem war er überzeugt, dass sie diese Insel niemals lebend verlassen würden. Der zweite Mann, Noahs Mörder, käme zurück und würde sie erschießen, alle fünf, und ihre Leichen im Meer versenken. Das war nicht schwer. Danach würde der Mann seinen Kumpel aus dem Keller wegschaffen, und wenn die Frau tot war, auch sie. Am Ende gäbe es keine Spuren mehr. Niemand hatte etwas bemerkt, obwohl die Insel bewohnt war und sogar einen Bahnhof hatte, an dem Leute ankamen und abreisten, Leute mit Augen und Ohren.
    Die Leute hörten und sahen wahrscheinlich nur sich selber, dachte Leon und nahm ohne Widerrede die braune Wolljacke entgegen, die Conrad ihm hinhielt.
    »Zieh das an«, sagte Conrad und gab Eike ebenfalls eine Wolljacke. »Wer will den Pelzmantel?«, fragte er die beiden Mädchen.
    »S-Sophia«, sagte Maren.
    Ohne darauf einzugehen, nahm Sophia den gelben Regenmantel vom Haken an der Garderobe und wollte ihn anziehen.
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