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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne
Autoren: Friedrich Ani
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Regencape und drei Wolljacken. Daneben war ein Spiegel, an dessen Rahmen ein blauer Gehstock lehnte. Sie erkannten ihn sofort. Conrad nahm den Stock, betrachtete die Spitze, sah die anderen an – Sekunden vollkommener Gemeinschaft – und riss die Tür auf, aus der die Stimmen ertönten.
    Auf einer dunkelroten Ledercouch saß die Frau in einem weißen Unterrock und trank aus einer Tasse. Sie kam nicht mehr dazu, die Tasse abzustellen. Conrad schlug so überraschend und hart zu, dass sie lautlos zu Boden kippte und vor Schreck liegen blieb. Ihr Unterrock war hochgerutscht, und Leon sah die Narbe an ihrem Bauch, die aussah wie eine Kerbe im Fleisch.
    Was Conrad mit ihr machen sollte, wusste er nicht. Auch die anderen hatten keinen Plan. Deswegen schauten sie der Frau erst einmal zu, wie sie sich den Kopf rieb und wimmerte. Leon ging näher hin, weil er nicht begriff, was da aus ihren Augen floss. Tränen, dachte er, konnten es unmöglich sein. Er sah auf sie hinunter, sie sah zu ihm herauf, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.
    Dann nahm Leon Conrad den Stock aus der Hand und stieß zu. Er nahm beide Hände zu Hilfe und drehte den Kopf zur Seite. Da bemerkte er, dass auf dem Wohnzimmertisch das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel ausgebreitet war, mit Figuren auf dem Spielfeld. In der Mitte lagen ein blauer und ein gelber Würfel. Lustig, dachte Leon und wiederholte den Stoß mit dem Stock. Er traf auf Widerstand im Körper der Frau, vielleicht, weil die Spitze des Stocks bloß aus Gummi war. Aber spitz genug war sie trotzdem. Er wandte sich ab.
    Maren stand immer noch an der Tür und hatte ein Messer in der Hand, das sie aus der Küche nebenan geholt hatte. »Willst du das klauen?«, fragte Leon.
    Maren hob den Arm mit der nach oben ragenden, langen Klinge. »W-wenn i-ich j-jemand er-stechen m-muss, d-dann n-nicht, d-dann lass i-ich’s st-stecken.«
    »Gut«, sagte Sophia.
    Wie auf ein Zeichen hin verließen die vier das Zimmer. Sonst schien niemand mehr im Haus zu sein.
    Vor den Fenstern war es dunkel. Außer im Flur und im Wohnzimmer brannte nirgendwo Licht.
    Im Vorbeigehen öffnete Sophia die Tür zum Badezimmer. Auf einer auf dem Boden ausgebreiteten blauen Plane lagen Messer und Zangen in unterschiedlichen Größen, ein Hammer, ein Beil, eine Unmenge von Schnüren und mehrere Rollen schwarzer Müllbeutel.
    »P-passt d-doch«, sagte Maren und warf ihr Messer auf die Plane.
    Leon überlegte, ob er in den ersten Stock gehen sollte – dort war das Zimmer der Frau –, um Feuer zu legen. Er konnte sich nicht entscheiden.
    »Wir brauchen was zum Anziehen«, sagte Sophia.
    »Meinst du, die haben unsere Sachen aufgehoben?« Conrad beobachtete Leon, der unschlüssig an der Treppe stand.
    »Da hinten ist noch ein Zimmer«, sagte Sophia. Sie ging zur geschlossenen Tür am Ende des Flurs und drückte die Klinke. Die Tür war abgeschlossen, der Schlüssel steckte.
    Das Erste, was ihr in dem fensterlosen Raum auffiel, war ein alter Holzschrank an der Stirnseite. Sie wollte schon hingehen, da hörte sie ein Wimmern.
    Auf einer schmalen Liege hinter der Tür lag gekrümmt ein Körper, dessen Hände auf dem Bauch gefesselt und dessen Füße mit Schnüren zusammengebunden waren. Das Gesicht war so bleich, dass es in der Finsternis schimmerte.
    »Eike«, sagte Sophia.
    Sie kniete sich hin und riss die Schnüre auf. Dann drückte sie seinen Kopf an ihre Brust und strich ihm behutsam durch die Haare.
    »Kannst du aufstehen?«, fragte sie.
    Sie hielt Eike fest, während er zitternd seine Beine bewegte.
    »Ein W-Wunder«, sagte Maren und griff nach Leons Hand. Die Berührung kam ihm vor wie aus einer anderen Zeit.
    »Bleib sitzen.« Sophia erhob sich und öffnete die Tür des Bauernschranks. Er war leer bis auf den Kleiderhaufen am Boden. »Das sind unsere Sachen, glaub ich.«
    Maren setzte sich neben Eike auf die wacklige Liege. »J-jetzt h-hauen wir ab, Ei-Eike, m-mit d-dir.«
    Eike starrte vor sich hin. Dann sah er mit großen, glühenden Augen zur Tür. » Ist der … der Blödschädel auch da?«
    »Ich bin hier«, sagte Conrad und trat in den Türrahmen.
    Vor Erschöpfung ließ Eike den Kopf hängen. »Hat jemand ein Schokoeis für mich?«
    Die Kleidungsstücke waren ihnen zu groß geworden. Mit um die Beine schlabbernden Hosen und sackartig herunterhängenden Hemden betrachteten sie sich im Flur gegenseitig. Ihre Schuhe hatten auch im Schrank gelegen, sie kamen ihnen so fremd vor wie alles andere. Jahre schienen vergangen zu
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