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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne
Autoren: Friedrich Ani
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Sophia, wirklich.«
    »Schon okay. Trink noch einen Schluck. Du sollst trinken. Ist wichtig. Gut. Pause. Durchschnaufen. Wir wissen Bescheid, wir sind da, wo du bist. Schau dich um: Fernseher, Toilette. Wir kriegen unser Essen.«
    »Scheißfraß.«
    »Verhunger doch, Eike, dann bleibt mehr für uns. Du gewöhnst dich dran, Conrad. Denk nicht nach. Denk nicht, was morgen ist. Morgen wird’s so oder so. Ja? Jetzt bist du hier. Genau seit gestern. Du redest, also bist du nicht stumm. Du atmest, du hast Augen und Ohren. Du bist ein menschliches Wesen. Wie wir alle.«
    »Ich heul gleich.«
    Sophia beugte sich zu Eike hinunter und verpasste ihm eine so harte Ohrfeige, dass er anfing zu weinen. Aber nur kurz. Er war elf Jahre alt und in seinem Herzen wohnte ein böser Hund.
    Sophia war vierzehn Jahre alt und hatte Hände, die niemandem winkten.
    Maren war dreizehn und ihr Stottern nichts als das Lächeln ihrer Stimme.
    Conrad war sechzehn und ein Elfmeterkiller und seit einer Woche der Auswurf seiner Träume.
    Als die schwere Eisentür geöffnet wurde, drehten sich Maren, Sophia und Eike sofort zur Wand. Conrad machte es ihnen nach, weil Sophia ihn mit ihrer kalten Hand im Nacken packte und mit sich zog. Er schloss dann, wie sie, die Augen.
    Die Person, die Leon zurückbrachte, zog ihm den Leinensack vom Kopf, wartete einen Moment und verriegelte die Tür von außen.
    Leon trug eine grüne Hose und ein gelbes Sweatshirt.
    Er war zwölf Jahre alt, und jedes Mal, wenn er an seinem Blut roch, freute er sich, dass es zu ihm gehörte.
    »Bin wieder da«, sagte er in den Rücken der anderen. Seine Stimme klang mechanisch wie das Flüstern einer Puppe. Und wie immer brauchten diejenigen, die zurückgeblieben waren, eine Weile, bis sie es wagten, sich umzudrehen.
    Leon blieb einfach stehen. Dann fiel er auf die Knie, kippte zur Seite, und sein Schluchzen begann. So wussten sie, dass er noch lebte, und fassten sich an den Händen. Conrad hätte am liebsten nie mehr losgelassen.
    Manchmal war Leon davon überzeugt, Philip Lahm wäre sein Bruder. Er wachte auf, und ohne dass er von dem Fußballspieler geträumt hätte, glaubte er, sich an Gespräche mit ihm zu erinnern. Er blieb dann liegen und dachte nach. Über taktische Maßnahmen, Bewegungsabläufe, die Tricks, den Gegner durch unerwartete Raumöffnung und Stellungswechsel zu verwirren.
    Wenn seine Mutter ihn zum zweiten Mal drängte, endlich aufzustehen, hielt er die Augen geschlossen und sagte: »Hab Traumsach zu erledigen.« Du mit deiner Traumsach, erwiderte dann seine Mutter und ließ ihn noch fünf Minuten liegen. Sie war eine Meisterin der Zeitplanung und schaffte es jeden Tag, dass ihr Sohn um Punkt fünf vor acht im Klassenzimmer saß. Von der Wohnung bis zur Schule brauchte er zu Fuß keine zehn Minuten. Und wenn er, was zum Glück nicht allzu oft passierte, mit seiner Traumsach im Badezimmer weitertrödelte, fuhr sie ihn mit dem Auto hin.
    An seine Mutter dachte Leon jetzt besser nicht. Er lag auf seiner Matratze im Dunkeln und horchte auf die anderen. Kein Laut. Sie schienen zu schlafen, jeder unter seiner Wolldecke, jeder nah an der Wand.
    Er dachte, obwohl er es eigentlich nicht wollte, an seinen ersten Tag in diesem Haus. Vielleicht kam er deswegen drauf, weil es oben heute nach frisch gebackenem Zwetschgenkuchen gerochen hatte. Wie damals.
    »Damals«, dachte er und war sich sofort sicher, dass er das Wort zum ersten Mal dachte. Normalerweise gehörte das Wort seiner Mutter. Die sagte oft: Damals hatten wir noch lange Kabel an den Mikrofonen, oder: Wenn ich damals die schwere Grippe ordentlich auskuriert hätte, hätte ich nicht meine Stimme verloren.
    Das alles hatte sie ihm schon erzählt, als er sechs Jahre alt war. Später fing sie immer wieder damit an und er gewöhnte sich daran. Einmal entschuldigte sie sich bei ihm und meinte, sie habe sonst niemanden, mit dem sie darüber reden konnte. Dann weinte sie. Und er beschloss, ihr in Zukunft auf jeden Fall immer zuzuhören, ganz gleich, ob er die Sachen von damals schon alle kannte oder sie nicht ganz kapierte.
    Leon hatte niemanden, dem er so gern zuhörte wie seiner Mutter. Sein Vater war ziemlich schweigsam gewesen. An ihn wollte er jetzt überhaupt nicht denken. Er wusste nicht einmal mehr genau, wie sein Vater ausgesehen hatte. In der Wohnung hing kein Foto von ihm, seine Mutter hatte schon ewig aufgehört, über ihn zu sprechen.
    Am ersten Schultag, das wusste Leon noch, war sein Vater zum ersten Mal nicht
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