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Im Zauber des Mondes

Titel: Im Zauber des Mondes
Autoren: Karen Robards
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    Es war ein nebliger Nachmittag im April 1784, und niemand, der Caitlyn O'Malley durch die engen Straßen Dublins stromern sah, wäre darauf gekommen, daß sie ein Mädchen war. Sie war jetzt fünfzehn, und seit acht Jahren spielte sie die Rolle eines Jungen so erfolgreich, daß sie manchmal selbst ihr wahres Geschlecht vergaß. Ihr dichtes schwarzes Haar reichte ihr fast bis zu den Schultern, und ihre feinen Gesichtszüge wurden von einer dicken Schmutzschicht nahezu verdeckt. Ihre leuchtendblauen Augen mit den dichten Wimpern wirkten riesig in dem schmalen, von Hunger gezeichneten Gesicht, aber auch sie gingen in dem Schmutz beinahe unter. Ihre Hosen waren wenigstens zwei Nummern zu groß, und der Mantel, den sie um ihren dürren Körper schlang, war alt und abgegriffen. So getarnt, sah sie wie irgendein zerlumpter zwölfjähriger Junge aus, genau wie ihr Freund, nur daß es bei ihm keine Tarnung war.
    »O Gott, O'Malley, riech doch mal!« Willie Laha blieb stehen und sog gierig den Geruch der frischen Fleischpasteten ein, die ein Händler gerade auf die Theke seines Wagens gestellt hatte. Sie waren so frisch, daß noch Dampf von ihnen aufstieg. Caitlyn starrte auf die goldbraunen Krusten. Ihr köstlicher Duft stieg ihr in die Nase, und das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Vor Hunger verkrampfte sich ihr Magen. Weder Willie noch sie hatten seit gestern mittag etwas gegessen; jetzt war es schon wieder spät nachmittags, und das Abendessen würde wahrscheinlich auch nicht gerade üppig ausfallen. In diesem Viertel machten so viele Diebe und Bettler die Straßen unsicher, daß die Händler alle bewaffnet waren. Selbst für den Diebstahl eines Apfels konnte man schon mit dem Leben bezahlen. Obwohl auf den Straßen Jahrmarkt war und die Hafenarbeiter jeden Abend durch das Viertel drängten, war die Ausbeute nicht besonders. Jeder paßte auf seinen Geldbeutel auf, und die Händler wachten mit Adleraugen über ihre Waren. Erst letzte Woche war Tim O'Flynn gehängt worden, weil er zwei Pflaumen und ein Stückchen Brot
    gestohlen hatte. Er hatte auch zu ihrer losen Bande gehört. Die Jungen waren so etwas wie eine Familie für Caitlyn, alles, was sie seit dem Tod ihrer Mutter noch hatte. Die Sache mit O'Flynn hatte ihr zugesetzt, seither war sie übervorsichtig; aber langsam wurde der Hunger stärker. Wenn sie nicht stahl, würde sie nichts zu essen haben.
    »Ihr da! Verschwindet, oder ich lasse meinen Stock auf eurem Hinterteil tanzen!« Der Händler hatte ihr Interesse bemerkt und starrte sie jetzt wütend an, einen Stock drohend in der Hand. Caitlyns Entgegnung war eine nicht gesellschaftsfähige Geste, aber sie wehrte sich nicht, als Willie sie weiterzog. Auf beiden Seiten der Straße standen Händler mit ihren Karren, und es gab alles, von Fleischpasteten bis zu Lederschuhen.
    »Am besten, wir warten auf Doyle und die anderen. Zu zweit sind unsere Chancen nicht so gut.«
    Willies Vorsicht reizte Caitlyn, und sie verzog verärgert das Gesicht. O'Flynns Tod machte feige Waschweiber aus ihnen. Willie und ein paar der anderen waren fest davon überzeugt, daß seither das Unglück über ihrer kleinen Gruppe hing wie ein böser Fluch. Das war natürlich Unsinn. O'Flynn war einfach nicht vorsichtig genug gewesen - oder nicht schnell genug. Die Lektion bestand also nicht darin, nicht mehr zu stehlen, sondern sich nicht dabei erwischen zu lassen. Und das hatte sie nicht vor. Sie war schon immer vorsichtig gewesen, und sie war schnell, die Schnellste von ihnen. Sie würde sich nicht von einem dieser fetten Händler fangen lassen, so wie O'Flynn. Und Jamie McFinnian, den sie einen Monat vor O'Flynn geschnappt hatten, war schon immer ungeschickt gewesen. Ein Wunder, daß er überhaupt so lange überlebt hatte.
    »Schau mal da!« Mit einer Kopfbewegung lenkte sie Willies Aufmerksamkeit weiter die Straße hinauf. Ein hochgewachsener, elegant gekleideter Herr bahnte sich mit lässiger Unbekümmertheit seinen Weg durch die schmutzigen Hafenarbeiter. Während sie ihn beobachteten, zog er eine goldene Taschenuhr hervor, schnippte den Deckel mit einem polierten Daumennagel auf und warf einen kurzen Blick darauf, ehe er sie zurücksteckte. Angewidert verzog Caitlyn das Gesicht. Ganz offensichtlich war der Gentleman ein Neuankömmling aus England, und niemand hatte daran gedacht, ihn vor dem gefährlichen irischen Viertel zu warnen. Er schlenderte die Straße entlang, als ob die Welt für ihn in schönster Ordnung wäre, und bemerkte
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