Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
aufgetaucht. Einen Monat später zogen seine Mutter und er in die kleine Wohnung, in der sie immer noch lebten. Ich ja nicht mehr, dachte Leon und horchte wieder.
    Jemand schnaufte lauter als die anderen, bestimmt Conrad. Ihm musste jeder zuhören, den ganzen Tag, das ging nicht anders. Conrad war der Neue, er durfte das: reden, bis ihm der Mund ausfranste. Bei den anderen war es das Gleiche gewesen. Von einer Minute zur anderen hatte jeder angefangen, seine Geschichte zu erzählen, schon morgens um acht, und am nächsten Tag von vorn.
    Reden war gut, reden war besser als heulen.
    Daran, dass alle trotzdem heulten, hatte Leon sich gewöhnt.
    Woran er sich niemals gewöhnen würde, war alles andere.
    Oft dachte Leon, dass er an seinem elften Geburtstag an dem grünen Häuschen hätte vorbeigehen und hinunter zum Fluss laufen sollen, wo ihn hinter all den dicht gewachsenen Büschen und Bäumen niemand bemerkt hätte. Doch wahrscheinlich hätte er es so lange nicht ausgehalten. Ganz sicher sogar.
    Aber wenn, dachte er am heutigen Sonntag seit dem Aufstehen fast ununterbrochen, ihm rechtzeitig die Worte seiner Mutter eingefallen wären, und wenn er bei dem komischen Geräusch, das er an der Tür hörte und das ihm gleich verdächtig erschienen war, umgedreht wäre, hätte er ein großer Fußballspieler werden und in einer Villa im Grünen leben können.
    Stattdessen war er in einem Keller gefangen.
    Manchmal hatte er solche Schmerzen, dass er nicht einmal einen Ball festhalten konnte. Er hatte keinen Ball, aber wenn er seine zitternden Hände und seine flatternden Arme betrachtete, wusste er Bescheid.
    Seine Mutter sagte immer: Geh da nicht rein, das ist ein ekliger Ort.
    Wieso hatte er nicht daran gedacht? Das war doch leicht, sich so einen Satz zu merken, vor allem, weil seine Mutter ihn immer wieder gesagt hatte.
    Sonst war doch niemand da, dem sie so einen Satz hätte sagen können.
    Nur er. Und er hatte zugehört. Jedes Mal.
    Und dann hatte er den Satz vergessen.
    Das Geräusch hatte er doch gehört! Und er war trotzdem reingegangen. Obwohl er ein wenig Angst gehabt hatte.
    Nicht genug Angst.
    Und als er wieder denken konnte, dachte er als Erstes an den Satz seiner Mutter, und dann heulte er. Das Auto, in dem er gefesselt und halb betäubt lag, raste über die Autobahn. Auch wenn er nicht hätte schwören mögen, dass es eine Autobahn war und nicht eine Achterbahn in einem Albtraum. Wie früher, wie damals , als er noch klein war und seine Mutter ihm in der Nacht den Schweiß vom Körper wischen musste, weil das Rasen im Traum einfach nicht aufgehört hatte.
    Plötzlich hielt er die Luft an. Da war ein Geräusch, bildete er sich ein, kein Schnaufen. Schritte?
    Er atmete mit weit offenem Mund lautlos ein und aus. Vielleicht hatte er sich getäuscht. So fest er konnte, presste er die Augen zu. Im Raum war es vollkommen dunkel. Es gab kein Fenster, das Licht wurde automatisch ein- und ausgeschaltet. Wie spät es sein mochte, wusste Leon nicht, aber er glaubte nicht, dass jetzt noch jemand von oben herunterkäme und einen von ihnen abholte.
    Seit einem Jahr wurde er abgeholt und zurückgebracht. Was mit ihm in der Zwischenzeit passierte, durfte niemand erfahren.
    Niemals. Wer darüber redete, musste sterben. Davon war er überzeugt.
    Leon vergaß das Geräusch, das wahrscheinlich sowieso nicht existiert hatte, und zog die Wolldecke noch ein Stück höher.
    Bevor Eike und die anderen kamen, hätte er sowieso mit niemandem darüber reden können. Er redete auch nicht mit sich selbst. Das hatte er eigentlich gern getan, nachts im Bett, wenn er aufwachte und vor lauter Stille Herzklopfen bekam.
    Das war zu Hause gewesen, in seinem weichen Bett mit den bunten Kissen und dem Elch und dem Löwen, die ihn bewachten, obwohl er eigentlich schon zu alt für Stofftiere war. Seit er hier war, fiel Leon jeden Abend vor Müdigkeit in einen bleiernen Schlaf und wachte erst auf, wenn das Licht anging oder Eike ihm auf den Kopf klopfte, als wäre sein Kopf eine Tür.
    Als im Lauf des Jahres Eike und die anderen kamen, hätte Leon dem einen oder anderen vielleicht etwas zuflüstern können.
    Flüstern war verboten.
    Wer flüstert, stirbt, hatte einer der Männer gesagt. Dann war er gegangen und hatte die schwere Eisentür verriegelt, die aussah wie die Türen in Fernsehfilmen, die im Gefängnis spielten. Bloß ohne Klappe.
    Hungern mussten sie nicht. Leon leckte sich die Lippen. Heute hatte jeder ein halbes gegrilltes Hähnchen und Pommes
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher