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Die unterirdische Sonne

Die unterirdische Sonne

Titel: Die unterirdische Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Trainingshose, ein Sweatshirt und Socken anzuziehen. Danach führte er sie durchs Haus. Sie roch Kaffee und Parfüm. Sie gingen eine Treppe hinunter, wo es kälter wurde. Der Mann öffnete eine schwere Eisentür. Er schubste sie in einen Raum, zog ihr den Sack vom Kopf, ging nach draußen und verriegelte die Tür.
    An der Wand gegenüber knieten zwei Jugendliche, ein Junge und ein Mädchen.
    Da wusste sie, dass sie in der Hölle war.
    »Die Erde war eine Wüste. Finsternis lag über der Flut.« Sophia betrachtete Leon, der aussah, als würde er schlafen. Als ältere Schwester war sie dafür verantwortlich, dass er am Abend friedlich einschlief, wenn die Mama nicht da war und ihm vorlesen konnte. »Und Gott sprach: Es werde Licht.«
    »Und es ist Licht geworden«, sagte Leon, ohne die Augen zu öffnen.
    »Du sollst einschlafen«, flüsterte Sophia, als meine sie es ernst. Sie meinte es auch ernst.
    »Und der liebe Gott trennte das Licht von der Finsternis, und es wurde Abend, und es wurde Morgen, und so begann der erste Tag.«
    Leon öffnete die Augen und schloss sie wieder und atmete ruhig.
    »Dann machte der liebe Gott ein Gewölbe und nannte es Himmel. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen, und der zweite Tag begann.«
    Obwohl sie eine Weile nicht sprach, schaute Leon nicht nach, was los war. Er wusste, ihre Stimme käme gleich wieder. Und da war sie auch schon.
    »Gott«, sagte Sophia mit fester, klarer Stimme, »befahl dem Wasser, sich zu sammeln an einem bestimmten Ort, damit man das Trockene sehen konnte. Das Trockene nannte er Land und das Wasser Meer. Und es war gut. Dann befahl er dem Land, Pflanzen wachsen zu lassen und Bäume mit Früchten. Und so geschah es auch. Und alles war gut. Und es wurde Abend und Morgen und der dritte Tag begann.«
    Leon schlug die Augen auf. »Und jetzt macht er die Sonne und die Sterne, stimmt’s?«
    »Stimmt.« Für einen Moment dachte Sophia an Maren, die seit mindestens einer Stunde oben war. Sie wischte sich über die Augen, wie Leon es immer machte, wenn er geweint hatte.
    »Er wollte, dass Lichter am Himmel sind, kleine und große, ein Licht für die Nacht und eins für den Tag, das allergrößte. Die Lichter trennten den Tag von der Finsternis und das war gut. Nach dem vierten Tag schuf Gott die Fische und andere Lebewesen fürs Wasser und Vögel für die Luft. Er sagte: Seid fruchtbar und vermehrt euch, und das taten sie dann auch alle. Und nach dem fünften Tag suchte Gott die Tiere fürs Land aus, Kühe und Hasen und alle möglichen Wesen, die herumkrochen oder über die Wiesen und Felder liefen. Da war was los.«
    Nach einem langen Schweigen, bei dem die beiden sich wieder ununterbrochen ansahen, sagte Leon leise: »Und dann hat er uns gemacht.«
    Der Gedanke an Maren und die Männer kam zurück. Sophia umklammerte, so fest sie konnte, die Tischkante und versuchte, sich mit aller Macht zu konzentrieren. Sie wollte, dass jedes einzelne Wort stimmte.
    »Lass uns Menschen machen, sprach Gott. Und die sollen über die Fische des Meeres herrschen …«
    Das stimmte nicht, überlegte sie, aber falsch war es auch nicht. So oft hatte sie die Worte schon gehört und jetzt brachte sie sie nicht zustande.
    »Was ist denn?«, fragte Leon mürrisch.
    »Ich kann die Bibel nicht auswendig.«
    »Doch.«
    »Das steht da anders, ich sag das bloß alles so.«
    »Ist doch gut, das passt schon. Du darfst nicht still sein.«
    »Wieso nicht?« Sophia ahnte, was er meinte. Er war länger hier als sie und hatte schon oft allein am Tisch gesessen, nachdem Maren geholt worden war. Sophia wollte ihn fragen, was er dann immer getan hatte.
    Dabei wusste sie noch nicht einmal seinen Namen.
    »Bitte«, sagte er.
    Bei dem Wort dachte sie an die alten Frauen, die in den Kirchenbänken knieten und den Herrgott um Beistand anflehten oder um eine Erklärung für das Unbegreifliche.
    »Entschuldige«, sagte sie mit sanfter Stimme, die Leon sofort an die seiner Mutter erinnerte, wenn sie wieder mal vor lauter Stress einen wichtigen Termin in der Schule vergessen hatte. Dann strich sie ihm mit ihrer nach einer fruchtigen Creme riechenden Hand über die Wange und sagte: Entschuldige, mein Schatz. Und später, wenn er allein war, rieb er sich die Backe und schnupperte an den Fingern.
    »Also, Gott schuf die Menschen nach seinem Abbild«, begann Sophia.
    Leon nickte.
    »Mann und Frau hat er erschaffen. Und er sagte zu ihnen: Seid fruchtbar und vermehrt euch. Und die Erde sollten sie bevölkern und sich die

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