Die unterirdische Sonne
ebenfalls unter Diabetes litten und sich regelmäßig spritzen mussten. Manchmal taten sie es mitten im Unterricht, oder sie packten nur ihre kleinen Messgeräte aus, mit denen sie ihre Blutwerte kontrollierten.
An jenem kalten, nach Schnee riechenden Tag im April, als Maren das Kreiskrankenhaus verließ, war ihre Vorstellung, dass Annabel vielleicht nie mehr aufwachte, schlimmer als die, in der Schule durchzufallen.
Auf dem Weg zum Bahnhof überlegte sie, ob sie Gott bitten sollte, Annabel das richtige Leben zurückzugeben, wenn sie dafür die Achte zweimal machte.
Mit Gott zu reden, war schwierig. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter waren vor langer Zeit aus der Kirche ausgetreten, hatten ihr aber die Wahl gelassen, in den Religionsunterricht zu gehen oder in Ethik. Sie blieb bei Religion, auch wegen Annabel, die aus einer ziemlich katholischen Familie kam. In den Gottesdienst begleitete Maren ihre Freundin allerdings nie, und wenn sie ehrlich war, bereitete ihr die Vorstellung eines höheren Wesens Kopfzerbrechen. Sie hatte ihre Zweifel, respektierte aber Annabels Gläubigkeit.
Vermutlich hatte sie an jenem Tag zu lange gegrübelt. Oder sie war zwischendurch öfter stehen geblieben, um ihren Rucksack mit den schweren Kladden und Büchern abzusetzen. Jedenfalls brauchte sie für den Weg länger als sonst.
Wie gewöhnlich war sie von der Schule aus direkt ins Krankenhaus gegangen. Wegen Annabel hatte sie neuerdings immer das dicke Märchenbuch dabei, aus dem sie ihr vorlas.
Am ersten Nachmittag hatte sie verzweifelt am Bett gesessen und nicht gewusst, was sie ihrer stummen, weit entfernten Freundin erzählen sollte. Geräte fiepten, Maren bekam fast Zahnschmerzen davon. Vier Stunden hatte sie ausgehalten – nur unterbrochen von einem Gang zur Toilette und einem Kurzbesuch in der Caféteria, wo sie eine halbe Tasse heiße Schokolade trank –, dann verließ sie weinend das Zimmer.
Zu Hause zermarterte sie sich den Kopf, was sie in den nächsten Tagen für ihre Freundin tun könnte. Weder mit ihrer Mutter noch mit ihrem Vater wollte sie darüber sprechen, sie kam sich schäbig vor, dass ihr selbst nichts einfiel. Beim Essen saß sie schweigend am Tisch. Erst, als sie schon die Zähne geputzt und sich zum Schlafen ins Bett gelegt hatte, explodierte eine Idee in ihrem Kopf.
Sie sprang auf, ging zum chaotischen Bücherregal neben der Tür und zog die Sammlung mit den Märchen heraus. Sofort kippten die anderen Bücher ineinander, einige fielen auf den Boden. Aus diesem dicken Buch hatte die Großmutter vorgelesen, wenn Maren krank war und sich unfassbar einsam fühlte. Die Geschichten und die melodische Stimme hatten sie jedes Mal besänftigt, und manchmal tauchten einige der Personen und Tiere in ihren Träumen auf und spielten mit ihr und machten sie fast wieder gesund.
Maren selbst hatte noch nie jemandem etwas vorgelesen. Am Anfang verhaspelte sie sich oft, dann immer weniger, und schließlich, schon am dritten Nachmittag, las sie fehlerlos Seite für Seite. Zwischendurch warf sie einen Blick auf Annabels weißes Gesicht und stellte sich vor, der Schnee ihrer Haut würde bald schmelzen und ihre Augen würden aufblühen wie Krokusse im Frühling.
Das Buch war in Leinen gebunden, alt und schwer, und es passte gerade noch in den Rucksack.
Bestimmt hatte sie ihn auch an diesem frühen Abend mehrmals abgesetzt, weil ihr die Riemen an der Schulter wehtaten.
Hinterher konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Den Weg von der Klinik zum See, an dem der Bahnhof lag, war sie in letzter Zeit unzählige Male gegangen, sie hätte ihn mit verbundenen Augen gefunden. Sie wusste genau, wie lange sie brauchte und wann der Bus abfuhr.
Doch an jenem Montag im April kam sie zu spät.
Der Bus war weg und der nächste würde erst in knapp zwei Stunden fahren.
Während sie auf einer Bank am Rondell – gegenüber dem Taxistand und dem Haupteingang, aus dem ständig Leute von der S-Bahn kamen – den Apfel aß, den ihr eine Krankenschwester geschenkt hatte, überlegte sie, ob sie ihren Vater anrufen und bitten sollte, sie abzuholen.
Ihre Mutter war seit dem Wochenende auf einem Seminar in Berlin, wo sie Vorträge über die gesunde Ernährung von Kindern hielt und aus ihrem neuen Ratgeberbuch vorlas.
»Hi, Maren.«
Vor ihr hatte ein Auto angehalten. Der Fahrer beugte sich über den Beifahrersitz und streckte den Kopf aus dem Seitenfenster. Sie kannte den Mann nicht.
»Ich bin Paul Haberl, der Onkel von Edwin«, sagte er.
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