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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Autoren: Wilhelm Genazino
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Der verlorene Schuh
     
    Ich habe noch nie mit eigenen Augen gesehen, wie ein Mann nachts oder tagsüber einen Schuh verliert, sich von diesem Missgeschick jedoch nicht beeindrucken lässt, sondern seinen Weg fortsetzt: einen Schuh in der Fremde zurücklassend. Ich habe auch noch nie eine Frau gesehen, die ihrer Stöckelschuhe von einer Minute zur nächsten überdrüssig geworden ist – und einen oder beide Schuhe ausgezogen und an irgendeiner windigen Ecke zurückgelassen hat.
    Man muss solche Vorgänge für möglich und wirklich halten. Was man von ihnen immer wieder nur sieht, ist das letzte Glied der Handlungskette: ein einsamer Schuh, meist ziemlich mitgenommen, oft nass, weil schon seit Tagen herumliegend. Ebensolche Frauenschuhe, oft sogar paarweise und ordentlich nebeneinander stehend, auf Nimmerwiedersehen verlassen.
    Oder verstoßen? Eine ernsthafte Dame, von Beruf Psychoanalytikerin, die ich mit dieser Frage konfrontierte, sagte: Es handle sich wahrscheinlich um Aussetzungen. Kleidungsstücke, so die Psychoanalytikerin, sind gefühlsmäßig hochbesetzte Objekte, die für bestimmte Körpererlebnisse oder Lebensabschnitte stehen, von denen sich die Betroffenen nur mit erheblichem inneren und/oder äußeren Aufwand lösen wollen oder müssen. Deswegen auch der Schau-Charakter der Trennung. Andere sollen sehen, wie schwer jemandem eine Ablösung gefallen ist. Das Objekt, der Schuh, ein symbolischer Darsteller, soll einen öffentlichen Niedergang erleben.
    Das ist wahrscheinlich für den einen oder anderen Fall zutreffend; gewiss aber nicht für die große Zahl herumliegender Schuhe. Ich habe diese Phantasie: Ein betrunkener Mann verliert beim Versuch, den Heimweg ohne fremde Hilfe zu schaffen, einen Schuh, ohne es zu bemerken. Für die Damenwelt fällt mir diese Variante ein: Irgendwo ist eine rasante Geburtstagsfeier im Gange; eine ebenfalls schon beschwipste Dame möchte ihre Freunde verblüffen, zieht einen oder beide Schuhe aus – und wirft sie in hohem Bogen aus dem Fenster. Ein Partygag. Die Gäste sind tatsächlich verblüfft, die Schuhe landen auf dem Bürgersteig, bleiben dort auch liegen und verwundern am nächsten Tag Leute wie mich, die wieder einmal nicht gesehen haben, wie so etwas geschehen konnte.
    Rätselhaft ist der starke Eindruck, den herumliegende Schuhe auf die anderen Passanten machen, die niemals Schuhe verlieren. Im Gegenteil, die »anständigen«, skandalfreien Schuhträger erleben in solchen Augenblicken eine gewisse Stärkung ihres ordentlichen Lebensgefühls. Es ist, als wären herumliegende Schuhe kleine Denkmale, die uns daran erinnern, dass wir nicht einen halben Tag lang vom rechten Weg abkommen dürfen. Sonst droht uns ein Lebensgefühl, das Eugène Ionesco (in seinem Tagebuch) auf diesen Punkt gebracht hat: Wir alle fürchten uns vor der plötzlichen Entdeckung, dass unser Leben »verpfuscht« sein könnte.
    Insofern sind herumliegende Schuhe, entgegen ihres harmlosen Aussehens, veritable Mini-Menetekel, schändlich, schmutzig, rätselhaft und sehr beeindruckend. Charlie Chaplin hatte von der Symbolkraft kaputter Schuhe ein tiefes Wissen. Der Held seiner frühen Stummfilme hatte stets äußerst erbarmungswürdige Treter an den Füßen. Sie waren (sind) so zerstört, dass sie jeden Augenblick auseinanderfallen können und deswegen mit Kordeln und Lumpen umwickelt sein mussten.
    Einmal landen Charlies Schuhe sogar in seinem mit Spaghettis gefüllten Teller, und Charlie merkt es nicht, dass er die Schnürsenkel für Spaghetti hält und sie prompt mitverspeist. Diese berühmte Szene ist deswegen so unerhört, weil die Schuhe im Teller momentweise ihre symbolische Macht in die Wirklichkeit entlassen und die Zuschauer von der Angst befreien, die von herumliegenden Schuhen ausgeht – und ungehindert in den Geist ihrer Betrachter einwandert.
    Der Schuhmacher, bei dem ich meine Schuhe neu sohlen lasse, verkauft einmal im Jahr von ihm reparierte, von ihren Besitzern aber nicht wieder abgeholte Schuhe für ein Taschengeld. Er selber hat keinen Verlust, weil er Schuhreparaturen nur noch gegen Vorauskasse annimmt. Er stellt die zwar gebrauchten, aber tadellos wieder hergerichteten Schuhe nebeneinander in sein Schaufenster. Aber kaum jemand schaut gebrauchte Schuhe an, niemand kauft gebrauchte Schuhe. Der Schuhmacher gibt trotzdem nicht auf. Er und ich schimpfen auf die Leute, die ihre Schuhe vergessen oder verschlampen oder gar – wer weiß – tatsächlich verstoßen.
    Dabei fällt
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